Die Farben des Tangos
Publiziert 26.04.2024 16:58 | Kommentare: 0 | zuletzt bearbeitet 26.04.2024 17:00
Jules Tavel war einer der letzten, die das große Schiff verließen. Er schulterte seinen Rucksack und mit der freien rechten Hand hielt er das Instrument mit dem Gurt fest an den Körper gepresst, ein Musikinstrument von ungewöhnlicher Bauweise: eine achteckige Harmonika, gefertigt aus Holz, Horn und Ziegenleder, ein Bandoneon. Das Musikinstrument dieses schmächtigen jungen Franzosen war eines der ersten seiner Art, die Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Argentinien einen wichtigen Einfluss auf die Musik des Tangos genommen haben. Einige wenige dieser Bandoneons, benannt nach dessen Erfinder Heinrich Band, waren zuerst von deutschen Einwanderern nach Südamerika gebracht worden. Jules hatte ein solches Instrument von seinem Großvater Bertrand aus Brignoles zum Abschied als Geschenk erhalten. Mit diesem Instrument fand er Erfüllung als Musiker im Zentrum dieser Musik, im Hafenviertel Buenos Aires', La Boca, mit seinem anrüchig morbiden Charme, in Kneipen und Bordellen. Außenseiter waren sein Publikum, einsame Seeleute, arme Einwanderer sowie Tagelöhner, die versuchten, ihr trostloses Dasein in diesem Milieu zu betäuben.
Es war die besondere tonale Mischung dieser Musik, in die sich die verlorenen Seelen des Barrio La Boca fallen ließen. Eine eindringliche Melange aus Elementen andalusischer und neapolitanischer Folklore, Tonleiter verknüpft mit Akkorden: scharf bis sanft, schwermütig und mythisch. Dieser schmächtige, zurückhaltende Musiker fing sie alle ein mit seinem virtuosen Spiel, wenn er, meist zusammen mit Pianist und Geiger, in seinem Stammlokal, dem 'Paraiso Oscuro', zum melancholischen Tango aufspielte. Es war nicht allein das mit traumwandlerischer Sicherheit Beherrschen der Tonknöpfe des Bandoneons. Die schwer zu durchschauenden, unwegsamen, komplizierten Griffwege waren es, die sein Spiel ausmachten. Jules erreichte eine nahezu perfekt klingende Prägnanz und Durchlässigkeit der Töne. Dabei half ihm seine angeborene Fähigkeit, beliebige Töne exakt bestimmen zu können. Zusammen mit der seltenen Begabung, in seine Klangmuster harmonische Farbwahrnehmungen mit einzubeziehen, entstand eine einzigartige Darbietung. Er, der im Alltagsleben unscheinbare Musiker, der keine Noten lesen konnte, spielte seine Musik wie von einer inneren farbigen Partitur herunter. Jules Tavel konnte nicht beschreiben, was er hierbei in seinem Farbgedächtnis erlebte. Er sah die Farben einfach - klar und deutlich, und richtete sein Spiel danach aus. 'Tavelito', so nannte man ihn im Barrio, ist einer der vergessenen Urväter des Tangos jener Tage. Eine Gelegenheit, auch außerhalb seines angestammten Viertels bekannt zu werden, scheiterte an einem tragischen Unglück. Der international berühmte Tangosänger und Komponist, Carlos Gardel, hatte dieses Ausnahmetalent auf einem seiner nächtlichen Streifzüge durch La Boca entdeckt. Die beiden wurden kongeniale Brüder im Geiste. Carlos wollte Jules in gemeinsame Auftritte einbinden. Dazu kam es aber nicht, der Sänger verunglückte bei einem Flugzeugabsturz tödlich.
Tavelito hat sein Barrio künstlerisch nie verlassen; seine einzigartige, ausdrucksvolle Musikalität ist nirgendwo dokumentiert. Das einzige, was heute noch auf ihn zurückzuführen ist, sind die farbenfrohen Hauswände in La Boca, im Viertel um die Calle Caminito herum. Tavelito war es, der mit seinen Farbestimmungen die bunte Vielfalt der Häuserfronten aus Wellblech entscheidend beeinflusst hatte, nachdem die vorher im Viertel vorhandenen, unansehnlichen Holzhütten von einem verheerenden Orkan weggefegt worden waren. Die neuen Wände der Hütten wurden nicht einfach nur bunt gestrichen, ihre Farben korrespondierten harmonisch miteinander, wie in einem genialen Klang von Tonfarben. Das gesamte Barrio wurde durch diese neue Farbgebung zum optischen Erlebnis und ist es bis zum heutigen Tage geblieben.
Wenn Altbewohner des Viertels von früheren Zeiten erzählen, ist mitunter noch von den Farben des Tangos die Rede. Scharen von Touristen kommen hierher, um diese beliebten Fotomotive abzuarbeiten. Die Originalstimmung jedoch, die kann niemand mehr einfangen. Vielleicht andeutungsweise das Flair früherer Zeiten, wenn sich nach schweren Regengüssen bunte Ölflecken in den Pfützen spiegeln und der Wind eine warme Brise von der Mündung des Rio de la Plata ins Barrio weht. Dann ist selbst der Geruch wie früher: eine eindringliche Mischung aus brackiger, schwüler Seeluft, vermengt mit der Witterung von abgestandenem Schiffsdiesel. Die dazugehörige, authentische Musik von damals aber bleibt verstummt.