Auf, auf sprach der Fuchs

Einen Vorbau hat nicht jedes Wohnzimmer, und demzufolge auch kein Seitenfenster. Doch nur so kann der Blick voll und ganz auf den Kirschbaum im Vorgarten gerichtet werden, die Bäckerei im Nachbarhaus streifen und die Beschaulichkeit einer Nebenstraße vermerken. Das Pendant zu diesem Fenster, das im Hausflur, welches sie von jetzt ab jeden zweiten Samstag wird putzen müssen, gibt den Blick nach Westen frei auf eine in die Innenstadt führende Verkehrsader. Mit einem der ganz modernen Ziehharmonika-Busse kam die neue Freundin morgens in die Stadt.
Die Haltestelle entzog sich dem Blick, doch zum Flurfenster und zurück wölbte sich ein unsichtbarer Bogen. Fest stand, dass dieser Bus um viertel von sieben zu nehmen war, und wenn Giesolde, noch in der Gruppe der anderen Fahrschüler, aussteigt, kann sie mitgehen oder abbiegen um zu klingeln, obwohl es zu früh ist um sieben.
Doch es war ja alles noch neu, vielleicht sogar ein bisschen aufregend in den ersten Septemberwochen - so wie diese Erweiterte Oberschule, in die sie jetzt beide gingen. Und an den hellen Morgen des Spätsommers kam es nicht an auf die Zeit, fast wie an einem Sonntag muss es gewesen sein, so unbeschwert.

Bald darauf wurden schon wieder, wie jedes Jahr, Äpfel und Eingemachtes eingelagert, Kartoffeln und Kohlen eingekellert. Damit würde man haushalten müssen, ein bisschen auf Sparflamme gehen, so lange wie möglich im warmen Bett bleiben. Aufstehen kurz nach halb sieben, das reichte völlig aus. Der Küchenherd tat sein bestes, aber nicht schlagartig. In Gang kam alles nicht viel anders. Die Freundin wird nicht mehr gleich herausspringen, sich lachend unterhaken. Dieser oder jener öffnet ihr jetzt die Haustür und bittet sie kurz einzutreten.
Sie tut das auch - mit der leisen Vorahnung, die sich unweigerlich einstellt. Der Mann da drin, der Vater, war ja mehr als das. Eine halbe Stunde später wird er den gleichen Schulweg antreten. Seine Fächer, Geschichte und Staatsbürgerkunde, sind nicht gerade die beliebtesten.

Hier ist der Vorhof erreicht, auf dem sich vorzusehen gilt und wo sich jeder selbst der Nächste, sie also nicht wirklich zu jemand geht. Anders hätten es ihre Eltern auch gar nicht geduldet. Es hatte auch nicht den Anschein, als ob sie erwartet wurde. Eher liefen da zwei völlig getrennte Vorgänge ab, von Welten getrennt; fiel die doch immer aus allen Wolken, weil es schon wieder so weit und sie noch nicht fertig. Und anstatt das nach einer Weile mal einer Betrachtung zu unterziehen, sich zu fragen, ob die zur Verfügung stehende Zeit denn ausreichend, verfiel sie regelmäßig in eine Hast sondergleichen. In den Medizinbüchern zu Hause, was stand da nicht alles über Pathologisches ... und ihr Vater, auch wenn als Dr.med.dent. weit unter seinen Möglichkeiten, hätte ihr in diesem Falle sicher schon längst einen vielsagenden Blick zugeworfen. Aber auch die Leute hätten ihren Senf dazugeben können. "Wenn es erst mal eingerissen ist", hätten sie wohl gesagt.

Während sie da stand, in der Ecke links von der Wohnungstür, stets ruhig und sich gleichbleibend, lief der eine oder andere an ihr vorbei, ganz mit sich selbst und dem morgendlichen Tun beschäftig. Was machte sie denn da? Ob sie nun klingelte oder nicht, war für die Freundin doch völlig unerheblich. Sie freute sich ja auch schon längst nicht mehr. Wäre es da nicht besser, sie ginge dann mit ihrem Vater. Da konnte sie sich gleich noch ein bisschen indoktrinieren lassen
Immer nur ein paar lange Minuten später, aber immer Minuten zu spät, ist die Freundin halbwegs so weit - in einem völlig entnervten Zustand - sich selber unkontrolliert hinausschleudernd in den anbrechenden Morgen.
Das sah man aber auch. Auf ihre Art hätte sie attraktiv sein können. Nicht so wie die beiden Frauen bei ihr zu Hause. Aber immerhin. Die Mutter und die Schwester, die waren, wie man so sagte, sehr flott.

Der Vater der Freundin, der hätte den beiden wahrscheinlich gefallen, der sah nicht nur gut aus, sondern trug auch maßgeschneiderte Anzüge. Insofern war nichts auszusetzen an ihm, und charmant konnte er wohl durchaus sein. Ihr gegenüber verhielt er sich so als kenne er sie kaum, ein einziger flüchtiger Blick ihm alles gesagt habe. Was er abgelesen haben mochte aus ihrem Gesicht, das musste mit früheren Dingen zusammenhängen, und das brachte ihn wohl auch dazu, nie ein Wort zu sagen gegen ihre Anwesenheit. Der sah tiefer und weiter, wahrscheinlich sogar in der Geschichte - insofern nicht fehl am Platze, doch das verlangte ja keiner. Was verlangt wurde, war das Durchsetzen der Doktrin unter Wahrung des Anscheins. Das machte der wohl zu Hause in jeder Hinsicht so. Es gab sie ja mehr als genug die ziemlich ahnungslosen Mitläufer, doch hier war es noch anders. Der musste, vielleicht nicht mal bewusst, eher aufgrund einer fast prophetischen Art, zum Inneren Kreis gehören, anders gesteuert werden.

Ihr hielt er wahrscheinlich zugute, dass sie nicht auch noch diese tollen Westklamotten trug. Doch ob nun gediegen, aber überhaupt nicht flott oder so ganz nett, doch zusammengestoppelt, das blieb sich dann auch gleich. Es war ja eigentlich kein Wunder, dass der Freundin, nicht anders als ihr, schon am Morgen die Lust verging.
Erst wenn sie die Treppen am Park, die Karlstraße und die Flutgrabenbrücke hinter sich hatten, breitete sich langsam wieder Ruhe aus. Die Fahrschüler im Untergeschoss waren eingeholt. Das Mobilar spärlich beleuchtet, herausgerissen aus der Strenge des Klassenzimmers, hier noch einen Rest wahren Daseins fristend, sich zu Sitzordnungen nicht mehr hergebend.
Da passte die rein, taute auf und war nicht zu überbieten an Enthousiasmus, wohl dosiert, in einer Reihenfolge, die eine innere Ordnung durchscheinen ließ. Beider Blick hatte kurz alles, was sich ihm unaufdringlich darbot, gestreift. Man hockte beinahe vergnüglich an seinem angestammten Plätzchen. Hefte und Bücher waren rausgeholt worden und los ging's. Was hast du gemacht? Was nicht? Verstanden? Nicht verstanden? Zeig her! Gib her! Muss ich abschreiben! Ja, hier ist mein Text - kein Problem. Kann ich die erklären. Hast du das jetzt verstanden? Fass noch mal zusammen! Da war kein Wort zuviel, kein Eingehen unnötig.

Mit dem ersten Klingelzeichen ging es nach oben und mit dem zweiten lief alles viel, viel langsamer, gedehnter, so als wäre dem eigentlichen Lernen da unten entsprochen worden - das das oben irrell und nicht viel mehr als Inszenierung. Oder aber es war ihre Welt, die kippte, sobald das gewohnte "Auf, auf sprach der Fuchs zu Hasen" aus dem Schlaf riss.
Ihren sakro-sankten Vorkriegswecker hatte die Mutter sich wieder mit Bedacht, ja, mit einer gewissen Zärtlichkeit aufgezogen. Was mit hineingeflossen - ein Abbild. Das Klingeln am Ende der Nacht eher ein Schlusspunkt. Meist hörte es der Mann, abweisend, resigniert. Nur wenn sie ihn leise beim Namen rief, ging es noch.
Den Kindern war es gleich, was in ihren Schlaf, ihre Träume drang; raus mussten sie so oder so. Da mochte es klingen wie es wollte - weggepustet, geprustet der Sinn. Die Eltern mussten den Spruch wohl lustig finden. Na, es war ihre Sache, wenn sie nicht merkten, was das abgelassen wurde, sie sich dazu hergaben. Seit einiger Zeit lief es aber schlechter damit, die unbeirrte Stimme der Mutter war ein bisschen zittrig geworden, und das ließ einen zusammenfahren. Was war denn los? Der Jäger war doch weit weg, oder hatte sie angefangen zu glauben, ein solcher stehe vor der Haustür? In der Tat, so ganz ohne war es wohl nie, wenn da so früh am Morgen geklingelt wurde.