Der Anruf kam unerwartet. Es war mein Schriftstellerkollege Stefan Aurich. Während ich immer noch auf meinen ersten nennenswerten Erfolg wartete, hatte er es mit seinen subtilen Kriminalromanen längst zum Bestsellerautor geschafft. Stefan und ich hatten uns von Anfang an sehr gut verstanden. Viele Kollegen meinten, das läge vor allem daran, dass wir uns äußerlich sehr ähnlich sahen. Aber wir waren auch in Bezug auf Literatur und Kunst meist der gleichen Meinung. Und das kommt in unseren Kreisen höchst selten vor.
Das erste Mal waren wir uns auf der Frankfurter Buchmesse begegnet. Das war vor neun Jahren. Seitdem trafen wir uns ab und zu auf Lesungen, Schriftstellerkongressen oder auf der Buchmesse. Darüber hinaus hatten wir keine Kontakte. Telefoniert hatten wir in all den Jahren nur zwei oder drei Mal.
Das Gespräch war ziemlich kurz. Stefan musste dringend nach Lissabon reisen. Dort wollte er einen mysteriösen Fall recherchieren, der auffallend viele Parallelen zu seinem aktuellen Krimidrehbuch aufwies. Da er seine Wohnung nicht so lange unbeaufsichtigt lassen wollte, bot er mir an, die nächsten drei Wochen in seinem Apartment zu wohnen.
Das Angebot war sehr merkwürdig und es kam ein bisschen plötzlich. Aber Hamburg war natürlich eine besondere Verlockung. In Stefans Wohnung könnte ich in aller Ruhe an meinem Buch weiterschreiben. Außerdem könnte ich dort einschlägige Milieustudien direkt vor Ort betreiben. Also sagte ich kurzentschlossen zu.
Ich hatte mir fest vorgenommen, in diesen drei Wochen mein Buch ein entscheidendes Stück voran zu bringen. Während der Zugfahrt hatte ich mir einen Tagesplan zurechtgelegt, an den ich mich mit eiserner Disziplin halten wollte. Aufstehen um halb acht. Duschen, gymnastische Übungen, Ankleiden und Frühstück bis neun. Dann Schreiben bis halb zwölf. Mittagsimbiss, Spaziergang und Ruhepause bis vierzehn Uhr. Dann Schreiben bis achtzehn Uhr. Der Rest war frei. Drei bis vier Nächte pro Woche waren für ausgiebige Streifzüge durch St. Pauli reserviert. Ein paar konkrete Erfahrungen am eigenen Leib würden meinem Roman sicher gut tun.
Als ich am Abend in Hamburg ankam, war Stefan längst in Lissabon. Ich holte, wie verabredet, den Wohnungsschlüssel bei einer Nachbarin ab. Ihr Abschiedsgruß - "Na, dann lassen Sie es sich mal gut gehen als Stefan Aurich" - ging mir noch eine Weile durch den Kopf, aber dann ordnete ich ihn in die Rubrik 'hanseatischer Humor' ein und machte es mir in meinem neuen Domizil bequem.
Auf Stefans Schreibtisch fand ich ein Manuskript. "Doppelgänger" - offenbar ein Entwurf für einen neuen Kriminalroman. Sofort vertiefte ich mich in die Lektüre, die mich von der ersten Seite an gefangen nahm. Ich war aufgewühlt aber auch enttäuscht, dass das Manuskript noch nicht fertiggestellt war. Zu gern hätte ich die Lösung zu diesem verwickelten Puzzle erfahren. Mir war klar, die Doppelgänger-Story würde ein absoluter Topseller werden.
Kurz vor dem Einschlafen schoss mir ein Gedanke in den Sinn. Stefan und ich waren gleich groß und wir hatten eine ähnliche Statur. Ich könnte doch, solange ich hier wohnte, Stefans extravagante Garderobe nutzen. Die Vorstellung, während meines Aufenthaltes in Stefans textile Hülle zu schlüpfen, versetzte mich in eine kribbelige Unruhe.
Am nächsten Morgen entdeckte ich auf einer Kommode ein Foto von Stefan, das offenbar jüngeren Datums war. Spontan beschloss ich, ausnahmsweise von meinem Arbeitsplan abzuweichen. Ich steckte das Bild mitsamt Rahmen in die Tasche, fuhr in die City und suchte einen trendig-coolen Friseursalon auf. Dort legte ich das Foto vor und ließ mir das Haar einen Tick dunkler färben und die Frisur so stylen wie Stefan. Als ich den smarten Figaro bat, auch noch meinen Schnurrbart abzurasieren, entspann sich eine kleine Debatte. Er fand, dass ich mit Schnurrbart viel markanter aussähe. Ich gab ihm recht. Ich hatte den Schnurrbart erst vor Kurzem wachsen lassen und ich fand auch, dass er mir ausgezeichnet stand. Aber es musste sein. Als der Meister sein Werk mit einem tiefen Seufzer beendet hatte, war die Verwandlung perfekt.
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