Literaturforum - Kurzgeschichten, Erzählungen, Romane, Gedichte - Bücher und eBooks

Sie sind gewöhnlich zu sechst - im Advent oder zwei Monate später zu Uschis Geburtstag in deren Esszimmer, das an Wohlhabenheit heranreichen möchte und an den Wänden sich begnügt mit der volkstümlichsten Einfachheit, bloß, dass es noch dazu eine deutsche ist. Man kann es rührend finden, angenehm insgesamt, aber auch eine Spur zurückverfolgen - der junge, französische Kommunist, der eine Ostberlinerin da rausholt, nur weil sie es dort nicht mehr aushält. Inzwischen hatte es ein jeder lange genug mit dem anderen ausgehalten.
Die, die mehr wissen, halten sich beim Blick auf das Interieur zurück; bei ihnen sieht es da anders aus. Aber gekocht wird hier gut, und das ist erst mal die Hauptsache und das wirklich Verbindende. Die Umstände machen daraus eine Art Abendmahl, zu dem nur geladen, wer damals auch dabei. Keiner der anderen Ehepartner war es, und keiner kam aus dem Land, dessen Sprache hier gesprochen wird. Sie mit am Tisch zu haben konnte undenkbarer nicht sein bei einer rein deutschen beziehungsweise österreichischen Sache. Bestimmt keine Verschwörung, aber unausgesprochen , unentfaltet doch eine. Die anderen wissen es, und ein jeder hier weiß, dass sie es fortzusetzen haben, das jährliche Treffen. Da spielt es keine Rolle, dass sie sich fast alle Tag für Tag im Lehrerzimmer sehen, dort an einem Tisch rumhängen. Das hier hat ganz anders angefangen, ist eine todernste Sache, wenn nicht, wäre der Hausherr noch anwesend.

Der Brief, den Uschi damals an die Direktion gehen ließ, war vom Inhalt her eine Herausforderung - so würde das nicht zu machen sein, was geplant für sie und andere. Doch etwas anderes musste die Betreffenden geradezu in Raserei versetzt haben. Es war die Form, der Ausdruck. In dieses richtig gute Französisch, rechtssprachiges, konnte ihn bloß der Ehemann gebracht haben. Ein Einheimischer hatte denen also geholfen. Was dann über die muttersprachlichen Kanäle lief, lässt sich höchstens vermuten oder auch unterstellen bei einem, der gern seine Messer- und Waffensammlung in die Hand nahm, manchmal nahe dran, sie gegen sich selbst zu richten. Diesmal jedoch war es ausgeführt worden. Was blieb im Haus, waren qualvolle Monate der Angst. Dahinein waren die von der Beerdigung getreten und wohl noch mehr die eine, die über ihren Mann ausrichten ließ, dass sie für Uschi bete. Es klang ja wunderbar in dem Moment. Das war nicht jedem gegeben. Ohne dies hätte die Frau aber vielleicht nicht ein paar Jahre später elendiglich zugrunde gehen müssen. Ihr Mann, eigentlich zur Runde gehörend, sollte aber nicht mehr mit an diesen Tisch. Und es dauerte so gut wie keinen, zu wissen, dass zu Hause vor ihm ein leerer Teller und das Wissen, dass man zusammensäße.
An Männern gab es daher nur einen, Edmund, den verkrachten, adligen Österreicher, der viel Orange und Samt zur Schau trug bei dieser Gelegenheit. Die Jahre, wie auch der immer wackliger werdende Arbeitsplatz hatten ein bisschen Schärfe nehmen können von den klösterlichen Erfahrungen, umgemünzt ins Sexuelle. Der andere hat in seinen Papieren den Namen Karl stehen, und je mehr ihn dieser kaputtmacht, umso weniger kümmert er sich um die Stapel von an ihn gerichteten Schreiben aller Art und macht so das Wenige noch selbst kaputt. Dieser Taufname war ihm überkommen von einem, der zurückschreckte vor den auf ihn zukommenden Verpflichtungen, nicht geben wollte - ihm.
Ob der Mann in einer Vision wahrnahm, was ihn erwartete oder ob das neue Leben so verlief, weil ihm Vorschuss, Zuschuss und dergleichen verweigert wurde, wer weiß. Richtig ist, dass Ernst, der nur diesen zweiten Vornamen gelten ließ, unablässig um diese Zuwendung bettelte. Pump war die Lebensader, die keiner so einfach zum Versiegen bringen wagte. War der Moment vorbei, machte so mancher seinem Ärger Luft wegen des nie Zurückgegebenen. Geringschätzung heftete sich an Mankel. Doch wenn sie ihn Ernst riefen, war es immer gut.

Davon hatte er ausgehen können; auf der Haben-Seite Theologie, Physik, Germanistik - abgeschlossen; an der Doktorarbeit zur Rolle von Du und Sie sozusagen ein Leben lang arbeitend. Dem anderen sein Recht auf Ablehnung zugestehen, das war wohl ausgeschlossen, doch verloren auf lange Sicht war noch nicht alles. Und um die Sicht ging es jetzt. Anfänglich war da eine Wohnung gewesen mit Blick über die Stadt, und ähnlich war der von Uschis Balkon aus. Eine von den sechs hätte ihn gern in der Runde gesehen; es kam auch schließlich so nach einer ganzen Reihe von Jahren, in denen sich keiner gefragt hatte, woran er, allein, wohl so dachte. Jetzt gefragt, wie er sich fühle, hätte nur kommen können wie immer: »beschissen«. Schnell zur Zigarre greifend, die nur auf dem Balkon geraucht werden durfte, war dem zuvorzukommen.
Da stehend, schoss es ihm heiss in die Augen. Da lag sie vor ihm, die Stadt. So wie ihn die anderen haben stehen sehen, sollte er von nun an dastehen.
Uschi gab als eine der ersten ihr Abschiedsessen gleich gegenüber von der Arbeit. Das dortige Sauerkraut, fast roh, gestampft und der ganze Teller voll, machte den Feinschmeckern keine Ehre. Als Geschenk gab es, wie zur ostdeutschen Jugendweihe, ein Nécessaire und das alles in der »Taverne«. Aber mittlerweile wusste ein jeder von ihnen wenigstens, was nécessaire bedeutet.