„Die Bahnhofstraße verkommt immer mehr“, stellt Lieselotte Pitz fest. Unzufrieden blickt sie um sich. „Die ganzen Ramschläden!“ Mit zusammengekniffenen Mundwinkeln schüttelt sie den Kopf. Andreas bummelt mit seiner Frau am späten Samstagabend durch die Saarbrücker Fußgängerzone zum Weihnachtsmarkt. Ihre Tochter Isabella hatte sich nachmittags mit Freundinnen in der Stadt getroffen. Nachher wollen die Eltern ihr Kind treffen und gemeinsam nach Hause fahren. Vor einer Bäckerei kniet ein Mann in demütiger Haltung auf einer schwarzen Tasche. Er trägt eine verschmutzte graue Hose und einen schwarzen Woll-Anorak. Sein dichter Bart verdeckt das braune von vielen Falten gezeichnete Gesicht. Mit beiden Händen hält er einen englischen Regenhut so vor sich, dass Vorbeigehende Münzen in die Kopfbedeckung werfen können. Und tatsächlich: als Lieselotte und Andreas vorbeigehen, klimpert eine Münze in den Hut. Ein auch nicht viel besser als der Alte aussehender jüngerer Mann wirft ein Geldstück zu den wenigen, die sich im Hut bereits angesammelt haben. „Es gibt auch immer mehr Bettler“, stellt Lieselotte fest.
„Fröhliche Weihnachten“ klingt es aus den Lautsprechern vom Kinderkarussell, dessen Lichter in die Fußgängerzone ausstrahlen. Menschenmassen drängeln über die gesamte Straßenbreite. In den Händen halten sie Tüten und Päckchen. Andreas hat bereits vor ein paar Tagen für seine Schwester und deren Kinder einen DVD-Player und zwei DVD-Filme gekauft. Mit Lieselotte war er übereingekommen, ein eher beschauliches Weihnachtsfest ohne große Geschenke zu feiern. Lediglich Isabella sollte ein paar „richtige“ Reitstiefel bekommen. Für die erwachsenen Kinder hatten sie bereits im Sommer „bei günstiger Gelegenheit“ sehr schöne Bildbände zu Paris und Kalifornien erstanden. Lieselotte und Andreas scheinen die einzigen Passanten zu sein, die am Samstagabend nicht von Einkäufen gehetzt durch die Stadt flanieren. Lieselotte macht gerne Schaufensterbummel. Sie schaut sich hier Schmuck an, dort Dessous, dann Schuhe oder auch Uhren. „Guck“, sagt sie vor einem Juwelier stehend, „das wäre eine schöne Uhr für Dich!“ Dabei zeigt sie auf ein wirklich elegant aussehendes Chronometer. „Aber ich habe doch eine Uhr“, stöhnt Andreas. Dabei hat er nicht nur eine Armbanduhr, sondern durchaus mehrere Varianten für den Sommer, den eleganten Ausgang, die Freizeit oder eben einfach nur zum Bummeln. „Uhr ist Uhr“, sagt er immer, „Hauptsache, ich kann die Zeit ablesen!“
Aber Lieselotte schaut gerne Schaufenster, hängt dabei wahrscheinlich irgendwelchen Träumen nach. So begleitet Andreas seine Frau geduldig von Geschäft zu Geschäft. In der Mitte der Fußgängerzone liegen Mistelzweige auf dem Pflaster. Der Verkäufer steht etwas gelangweilt daneben, weil die Menschenmassen an ihm vorbeirauschen. Vor dem T-Punkt sitzt ein dicker Mann mit breitem Mund auf einem kleinen Stoffhocker. Er singt unverständlich zu seinen schlechten Akkordeonklängen. Auf dem Kopf trägt er eine dicke Russenfellmütze mit über die Ohren fallenden Klappen. Ein paar Geschäfte weiter spielt ein zweiter Akkordeonist den „Schneewalzer“. Das gefällt Andreas schon deutlich besser. Vielleicht, weil er die Melodie kennt. Ein paar Holzbuden vom Weihnachtsmarkt stehen in der Fußgängerzone. Sie verbreiten einen anheimelnden Glanz. Genauso wie die über die Straße gespannten Lichterketten mit ihren Märchenmotiven.
Vor Peek & Cloppenburg liegt ein Mann mit Hund vor einer der Arkadensäulen. Den Hund hat er in eine schmutzige Decke eingehüllt. Er selber sitzt auf ein paar Kartonfetzen. Seine in einer Bundeswehrhose mit Tarnmusterung steckenden Beine liegen den Vorbeieilenden im Weg. So macht die Menschenmenge einen kleinen Bogen um ihn und die auf einer Kartonscheibe liegenden Münzen. Andreas staunt. Vor ihm bückt sich eine junge Frau, mit mehreren Tüten bepackt, ungelenk zu dem am Boden liegenden Karton und lässt aus ihren Handschuhen ein paar golden glänzende Münzen fallen. „Schönes Wochenende“ wünscht der am Boden sitzende Mann mit freundlichen Worten. Lieselotte lenkt Andreas Schritte vor die großen Schaufenster von Peek & Cloppenburg. Dekoriert ist bereits die Festtagskleidung. Aus den weit offen stehenden Türen des Kaufhauses kommt nicht nur warme Luft. Die Melodie der „Petersburger Schlittenfahrt“ beschwingt Andreas’ Gedankengänge. Wie Lieselotte ist er von den im hellen Licht stehenden Schaufensterpuppen in ihren eleganten Anzügen und Abendkleidern verzaubert. Er gerät ins Träumen. Seine Blicke bleiben auf einem grün-schwarz changierenden Kostüm hängen. Er stellt sich Lieselotte darin vor. Schick sähe sie aus. Aber wo sollte sie das tragen? Lieselotte kuschelt sich mehr an ihren Mann. Dann fällt ihr das grüne Kostüm ins Auge. „Sehr schön“, stellt sie begeistert fest und fordert Andreas auf, das grüne Kostüm anzuschauen: „Guck, Andreas!“ Erst jetzt sieht Andreas die durchsichtige schwarze Bluse, die die Schaufensterpuppe trägt. „Grün ist ‚meine’ Farbe!“ Über und über ist das schwarze Chiffon mit im Lichterglanz grün funkelnden Pailletten bedeckt. Damit wäre Lieselotte ein „Glanzpunkt“. Nicht nur für ihn. „Allein das Kleid wäre es wert, Silvester ‚groß’ zu feiern“, denkt Andreas.
Andreas küsst seine Frau. „Komm, wir gehen weiter“, sagt er. Aus einer Konditorei dringen Duftschwaden frisch gebackener Zimtwaffeln. Ihnen kommt mit schnellen Schritten ein „Penner“ entgegen. Er trägt einen langen, schmutzig aussehenden zotteligen Fellmantel. „Liesel, guck“, macht Andreas lächelnd seine Frau auf den jungen Mann in seiner schwarzen Lederhose aufmerksam, „der hat den gleichen Mantel wie Du!“ Pikiert schaut Lieselotte auf den wirr zu Boden schauenden Mann, eher ein Junkie als ein Alkoholiker. Unter dem Arm hält er eine zusammen gerollte Wolldecke. Lieselotte schaut Andreas an: „Mein Mantel sieht aber bei weitem besser aus!“ Natürlich stimmt das. Vor zwei Jahren kaufte Lieselotte bei einem Ausflug in den Schwarzwald diesen Mantel, der im Design mit seinen langen Wollfäden an das Zottelfell von Hochland-Rindern erinnert. Operettenmelodien umspielen die beiden an der nächsten Hausecke. Ein Flötist bläst zu aus einem Lautsprecher kommender Musik seinen Part.
Lieselotte und Andreas haben den St. Johanner Markt erreicht. Vor ihnen stehen in bunter Vielfalt die Holzhütten des Weihnachtsmarktes. Glühwein lockt mit Lebkuchen, es riecht verführerisch in der Nase. Die beiden bummeln entlang der zahlreichen Buden, lassen sich von Glaskugeln, Honig-Kerzen und Silber-Schmuck verzaubern. Die Menschenmassen stocken. Vorne, am Marktbrunnen, hat ein hochbeiniger, auf Stelzen stehender Nikolaus im roten Gewand Scharen von Kindern angelockt. Er bläst Luftballons auf. Aus den langen Schläuchen baut er Figuren, die er an die Kinder verschenkt. Lieselotte sieht Isabella. „Hallo, Isabella!“ Sie ruft winkend ihre Tochter. Aber die 13-Jährige hat nur Augen für den Nikolaus. Gegen die über dem Markt liegende Weihnachtsmusik kann sich Lieselotte nicht durchsetzen.
Schließlich hat der Nikolaus keine Luftballons mehr. Der Menschenauflauf verliert sich in neuem Gedränge. Aber Lieselotte und Andreas haben ihr Kind erreicht. Jetzt erwarten die Besucher des Weihnachtsmarktes den heiligen Nikolaus mit seinen Rentieren. Als eine besondere Attraktion „überfliegt“ der Schlitten des Weihnachtsmannes die Budenstadt. Auf einem Hochseil überquert ein Artist im Nikolauskostüm mit Schlitten und Rentieren den St. Johanner Markt. Andreas hatte davon in der Zeitung gelesen. Heute Abend wollte er sich das Ereignis mit der Familie ansehen. Und es ist beeindruckend. In der frühen Dunkelheit ist das Seil kaum zu sehen. So entsteht tatsächlich der Eindruck, Nikolaus würde mit seinem Schlitten und den Plüsch-Rentieren durch die Lüfte schweben. Über der Mitte des Platzes bleibt der Schlitten stehen und der Nikolaus erzählt die Geschichte von Rudolf, seinem Rentier. Verzückt schauen die Weihnachtsmarktbesucher nach oben. Als dieses Weihnachtserlebnis vorbei ist, verabschiedet sich Isabella von ihren Schulfreundinnen. Die Familie Pitz fährt nach Hause.
„Früher“, so denkt Andreas an die Zeit, als er noch nicht arbeitslos war, „hätte ich jetzt mit Lieselotte noch einen Glühwein getrunken. Wir hätten Crêpes und Waffeln gegessen und wahrscheinlich auch das Konzert in der Schlosskirche besucht.“ Mit drei Euro kostet der Eintritt nicht viel. Aber mit der Familie wäre Andreas danach wahrscheinlich zum Essen noch in ein Restaurant gegangen. „So lange ich keinen Job in Aussicht habe“, bemerkt Andreas schmerzlich, als er die hohe Fichte vor der Saar Galerie mit ihren blinkenden Lichterketten und den rot und gold glänzenden Geschenkpaketen sieht, „müssen wir unser Geld zusammen halten!“
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Hallo Alesia, ich finde deine Geschichte gut. Es enstanden bei mir Bilder, durch deine Sätze und das finde ich beim Lesen immer wichtig. Das einzige, was mir bei manchen Sätzen nicht ganz so gut gefällt ist, dass sie teilweise mit so vielen Informationen gespickt sind und die Fantasie ein wenig zu kurz kommt. Manchmal ist weniger mehr. Aber ansonsten ist das eine schöne Weihnachtsgeschichte!!! Lieben Gruß, Smilla
Stimmt. Der Beitrag lebt förmlich aus zu vielen Beschreibungen des Weihnachtsmarktes, die zu "dicht nacheinander" erfolgen. Beim Schluss musste ich etwas schmunzeln, obgleich es heutzutage ja wirklich für viele Menschen schmerzliche Realität ist, dass sie sich aufgrund der Arbeitslage und den zusätzlich hohen Lebenskosten kaum was leisten können. Aber was ist mit Lieselotte? Ist sie auch arbeitslos? Bekommt sie kein Geld? Das widerspricht sich ein bisschen mit dem, dass sie sich "gar nichts" leisten können. Denn dann müsste es ihnen wirklich extrem dreckig gehen, wenn sie nicht mal "einen" Glühwein trinken können. (Aber kaufen einen DVD-Player für die Kinder der Schwester?) In diesem Fall hätte ich das in den Schlusssatz mit einbezogen, also dass sie beide keine Arbeit haben. Zudem würde dieser Schluss noch schockierender für den Leser wirken! LG! (Ich wollte noch anmerken, ich hoffe, es sind keine persönlichen Erfahrungen.)
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Ich habe einen Kommentar bei smilla geschrieben, den könnte ich hier auch verwenden.
Leider kann ich nur meine Gefühle als Leser wiedergeben und Ratschläge, wie man es besser machen könnte, habe ich nicht. Ich hoffe, meine Vorredner und weitere Leser helfen Dir mehr.