Literaturforum - Kurzgeschichten, Erzählungen, Romane, Gedichte - Bücher und eBooks

Von den Leuten, die da sitzen, in dieser Bahn, geht überwiegend etwas aus - ein bisschen gute Stimmung; anders als bei denen, die tagtäglich eine zu nehmen haben. In der letzten Zeit steht regelmäßig jemand auf. Immer wieder, sobald sie einsteigt, wiederholt sich dieses erste Mal, an dem ein junges Mädchen, sehr bleich, wie aus einer anderen Welt, aufsprang. Die nächststehende Frau blickte auf. Mit ein paar dankenden Worten hatte sie höflich abgelehnt. Brüsk wirkte es. Hatte doch in der Geste viel mehr gelegen, und das stand die zwei, drei Stationen weiter wie eine Fackel in ihrer Mitte, lodernd vor Schmerz. Wie gut sie den kannte.
Doch in dem Moment hatte ihre Klarheit die Oberhand gehabt. Nicht auf die Hilfe anderer bauen, genau abschätzen wie weit die eigene Kraft reicht. So wie sie schon immer hatte reichen müssen auf diesem vertrauten Weg. Ja, ihre Haare waren jetzt weiß. Aber da den Platz von einem anderen einnehmen, das kommt ihr unvorstellbar vor. Wie säße sie denn da - doch wie auf dem Präsentierteller. Da müsste sie auch sonst schon als die Frau Soundso auftreten. Für sie war das nie vorgesehen gewesen.
Etwas von diesem jungen Mädchen könnte sie einst an sich gehabt haben, etwas, das einen aus gutem Hause dazu bewog, für sie im übertragenen Sinne aufzuspringen. Ablehnen unmöglich. Sie hätte aussteigen müssen. Doch bei voller Fahrt!
Ablehnung auf der ganzen Linie - wie das geht, war ihr inzwischen ausreichend klar gemacht worden. Zu der, die sie heute ist, würde Eckert am besten passen. Sie wäre einfach Eckert oder die Eckert. Eine Frau dieses Namens, die richtige und wohl auch eine richtige, findet sich unter den Vorfahren, ein Jahrhundert zuvor. Noch keine Vertriebene, doch rückwirkend ist sie anders nicht zu sehen und zu sehen ist da nichts mehr.

Wenn sie jetzt Avenue d'Iena aussteigt, werden sich solche Gefühlsduseleien schnell verflüchtigen müssen. Da, wohin sie ihre Schritte auf dem leicht ansteigenden, breiten Trottoir lenkt, ist man auf dem neuesten Stand, sowohl baulich als auch beim ganzen kulturellen Angebot. Und wer sich noch Fragen stellt nach Jena, braucht nur nach der ausgelegten, farbig glänzenden Broschüre zu greifen. In ihrer heutigen Gestalt eine Stadt auf dem neuesten Stand. Man muss nicht weiter fragen nach dem Auerstedt, das gleich so typisch deutsch anmutet. Ist doch unwichtig bei dieser Niederlage Preußens lange vor der Nachkriegszeit, die dieses Institut zu einem Muster moderner Architektur und funktionierender Organisation hatte werden lassen.
Aus dieser Perspektive ließ sich das bislang gar nicht sehen. Der Gast, der Besucher, gebunden an ein oder zwei Interessengebiete, blickt darüber kaum hinaus. Erst wenn das gewohnte Schema umgemodelt wird, geht an allen Ecken und Enden etwas hervor, das seine Zustimmung erheischen möchte. Die wird ihn zum Mitträger des Neuen machen. Nicht damit im Einklang stehen, kann zum echten Konflikt werden. Hier geht der Sprung von der Ebene des Machbaren zu der der Attraktivität - eine Generationensache. Mit den Auswirkungen eines Sprungs fertig zu werden kann Jahre in Anspruch nehmen.

Doch seit neben den neuen Farben auch dem Biergarten entlehnte Tische und Stühle im weitläufigen Eingangsbereich aufgetaucht sind, kommt beim Betreten ein bisschen gute Laune auf. Die Leute, die da sitzen, haben etwas für sich entdeckt. Damit lässt sich umgehen - ein Hauch Deutschland, eine Spur Frankreich, kulturell und kulinarisch.
Ja, das ist es auch seit "Stube" dafür sorgt. In diesem repräsentativen Stadtviertel eine ziemliche Seltenheit. Man möchte meinen, dass die neue Zeit hier zur guten alten wird. Die Bekannten am Tisch werden da wohl kaum widersprechen. Und Niveau hat es ja! Binden würde man sich eben so weit es einen arrangierte, denn ganz sicher konnte man bei denen ja nie sein.
Sicher! Sobald angefangen wird, mit einer Geste etwas zu bezwecken, ist ein erster Schritt getan. Wie sähe denn in der Bibliothek ein solcher aus? Nun ja, die Bücher ließen sich von unten nach oben stellen und umgekehrt. Die Regale kämen zwecks Übersichtlichkeit an die Wand. Jeder würde sich sofort ein bisschen wie zu Hause fühlen, wie in seinem eigenen Wohnzimmer oder in dem von Bekannten. Man kennt ihn ja den Drang, sich bei den ersten Besuchen mit ein paar schnellen Blicken einen Eindruck zu verschaffen. Ja, aber dazu sind es der Bücher zu viele.
Es muss also ein Großteil weg. Aus- und einsortieren nach bestimmten Kriterien? Ja, Glaubensbekenntnisse kommen immer gut an. In intellektuelllen Kreisen der Hauptstadt daraufhin eine breitere, systematische Beschäftigung damit zu erwarten, das wäre dann aber doch zuviel verlangt - außer der Autor versteht sich aufs Bloßstellen.
Und wenn man schon beim Stellen - wie wäre es, Front- und Hofseite ganz anders zu nutzen, vielleicht sogar den ursprünglichen Eingang zu verrammeln, innere Riegel vorzuschieben. Die alte Ausleihe, an der keiner vorbeikam ohne mitgeführte größere Taschen und Jacken im Schließfach deponiert zu haben, die hatte doch tatsächlich unverdächtigt rein- und rauskommen lassen. Weg damit! Ins Untergeschoss!

Ihr wäre bei diesem Aussortieren vielleicht ein alter Band vor die Füße gefallen, einer, in dem das Schwergewicht nicht auf 1806 sondern 1803 gelegen hätte, denn sonst muss einem das Gebiet doch völlig losgelöst, wie aus der Luft gegriffen vorkommen. Was war denn damit gewonnen außer empfindlichen Verlusten an Mensch und Material?
Abgelöst, ja, vom alten Kurmainz in einem Rezeß, säkularisiert und Preußen zugeschlagen - aber immerhin von Kaisers Gnaden. Muss ein schlechter moralischer Ausgangspunkt gewesen sein, doppelt schwerwiegend, so wie der doppelte Boden von Jena und Auerstedt - ein heimischer deshalb noch lange nicht.
Und! War es bei ihr denn besser? In der Zeit des Kalten Krieges aus Jenas großer Nachbarstadt kommend, in dieser kulturellen Einrichtung der Bundesrepublik, die wiederum ohne mannigfaltiges Entgegenkommen im Lande nicht da wäre und nenne sich die Straße auch zehnmal Avenue d'Iena. Alles nur Spitzfindigkeiten? Ja, sieht so aus, oder eher, sah so aus zu der Zeit, als in einer amerikanischen Sprachschule noch laufend Leute eingestellt wurden, die es nach einer Einarbeitungszeit verstanden, ihre Mutterspraqche ganz methodisch an den Mann zu bringen. Doch welch furchtbarer Klang haftete dieser plötzlich an - zum davonlaufen. Aber wohin denn noch?
Na, wenigstens in die pädagogische Verbindungsstelle. Ach nein, mit Pädagogik hatte das nichts zu tun, eher schon mit der jüngsten Vergangeheit. Also wenigstens sich da hineinlesen und nachträglich stellen, dem Nachgetragenen.

Bisher alles mitgemacht und überstanden hatten es die fünf Ordner in ihren wechselnden Eckchen gleich neben komfortablen Sitzgruppen. Anbietende und Suchende stellen hier ein, oder besser, legen ihr ganz individuell gestaltetes Blatt ein. Absehen lässt sich ja nie, worauf man dabei stoßen könnte, und das ist gegenüber dem Festgefahrenen der Rettungsring, der letzte Kräfte mobilisiert. Am nächsten Tag sieht dann alles schon wieder ganz anders aus.
Das wird man sich nun wohl langsam aus dem Kopf schlagen müssen. So ist das nicht mehr zu machen bei den Anforderungen und Mieten. Und überhaupt - mal so eben für eine Zeit nach Paris kommen - das war einmal.
Umso bewusster mischt sie sich von Pont de Levallois bis Havre Caumartin unter die Leute, deren mühevolles Tagewerk damit zusammengeht, dann aber, beim Umsteigen in die Eiffelturm-Linie wird schnell klar, dass Paris auch nur eine Reise wert sein kann. Dem nicht abreißenden Strom all derer, die sich so lange auf den Eiffelturm freuten und es jetzt so kurz davor auch ausstrahlen, hat sich etwas von den früheren Pilgern beigemengt. Was verbindet nicht ein jeder mit einer solchen Reise und was nimmt er nicht alles mit, ganz ohne Ritual.
Sie, die mit offenen Augen den Blick hatte gleiten lassen über diese Menschen, eingestimmt worden war und sich mitschwingen fühlte, senkt jetzt den Blick - in Gedanken bei der alten Frau früherer Zeiten und dem guten Herz des Mädchens. Da hätte es etwas geschenkt bekommen, von der Frau selbst nichts gewusst. Was es jetzt weiss von einer solchen, wird seelisch übertragen worden sein, und zwar das, was notwendig. Beide nur Akteure, und über ihnen etwas - ohne Adresse oder Öffnungszeit.