Literaturforum - Kurzgeschichten, Erzählungen, Romane, Gedichte - Bücher und eBooks

Ein zuvorkommendes Mädchen
Zuvorkommenheit lag in Janas Natur. Daher hatte sie sofort zugesagt, als die Westons sie baten, ihre Kinder zu hüten, damit sie selbst auf eine „absolutely crazy halloween party“ gehen konnten. Die Westons kamen aus den USA und waren erst vor Kurzem in eine wunderschöne Jugendstilvilla in Janas Nachbarschaft gezogen. Die Verabredung mit ihrem Freund hatte Jana absagen müssen, aber wie gesagt, Jana war ein zuvorkommendes Mädchen.
Als Jana zur vereinbarten Zeit an der Tür der Westons klingelte, öffnete die neunjährige Sally. „Die Eltern sind schon weg.“, sagte sie. Ihre Deutschkenntnisse waren sehr gut, mit Ausnahme eines leichten amerikanischen Akzents. Kein Wunder, schließlich stammte Mrs. Westons Mutter aus Deutschland.
„Na denn.“, sagte Jana und ging mit Sally hinein. Sie kannte das elegant eingerichtete Haus bereits von der Einweihungsparty, die die Westons für die Nachbarn gegeben hatten.
Jana legte ihren Mantel ab. „Wo ist denn David?“
„Im Kinderzimmer.“ Sally deutete nach oben. „Wir bereiten etwas Tolles für dich vor!“, erklärte sie großspurig. „Und du darfst uns dabei nicht stören. – Erst wenn wir es dir sagen. Sonst wäre es ja keine Überraschung mehr.“
Jana lachte. „Kein Problem. Ich setze mich ins Wohnzimmer und seh ein bisschen fern.“
„Ok.“ Sally sprang, immer zwei Stufen nehmend, die Treppe hinauf. Jana hörte, wie sich die Tür zum Kinderzimmer schloss und freute sich, weil es sich bei den beiden kleinen Westons offensichtlich um die seltene Art von Kindern handelte, die sich allein beschäftigen konnten. Entspannt ließ sie sich auf die riesige Couch sinken und zappte sich durch über hundert Programme.
Von den Kindern war nicht das kleinste Geräusch zu hören. Jana überlegte, ob sie nicht doch nachsehen sollte. Aber hatte Sally nicht gesagt, sie würden eine Überraschung vorbereiten? Und David war immerhin zwölf, also kein kleines Kind mehr, das man ununterbrochen beaufsichtigen musste. Jana kuschelte sich wieder in die Kissen und döste ein. Das laute Ding-Dong zu Beginn der Abendnachrichten riss Jana aus dem Schlaf. Sie gähnte, sah auf die Uhr und stemmte sich widerwillig aus der gemütlichen Couch. Zeit fürs Abendessen, dachte sie und wanderte in die Küche. Aber der Kühlschrank war fast leer. Bis auf ein Päckchen Butter und eine Flasche Milch befand sich nichts darin.
„Komisch.“, dachte Jana. Sie hatte fest damit gerechnet, dass die Westons für genug Essen gesorgt hätten. Jana öffnete einige Schränke in der Küche. Nichts außer Geschirr. Als sie wahllos eine der Laden aufzog, stieß sie einen heiseren Schrei aus. Da lag ein abgeschnittener Finger! Mitten im Essbesteck! Bei nochmaligem Hinsehen stellte sich allerdings heraus, dass es sich um einen Flaschenöffner handelte. „Oh Mann, sehr witzig!“ Dass Jana auf einen derart unoriginellen Scherzartikel hereingefallen war, fuchste sie ein wenig. Sie öffnete die Tür zur Speisekammer und suchte vergeblich nach dem Lichtschalter. Zum Glück konnte sie dank der Küchenbeleuchtung gerade genug sehen, um festzustellen, dass sämtliche Regale leer waren - bis auf ein paar Konservendosen und noch mehr Halloweenspaß: Ein Haarzopf etwa, der an einer Metallschiene befestigt war oder eine abgeschnittene Hand mit rot lackierten Fingernägeln und gleich daneben ein Männerbein mit schwarzen Stoppeln an den Unterschenkeln… In einem großen Einweckglas lag etwas, das aussah wie eine Nase, umrahmt von schwarzen, struppigen Haarbüscheln... Im schwachen Lichtschein konnte Jana noch mehrere, kleinere Körperteile in Gläsern und bauchigen Flaschen ausmachen. Kopfschüttelnd schloss die Tür. Wenn die kleinen Rotznasen ernsthaft glaubten, sie könnten ihre Nanny mit ein paar Plastikleichenteilen erschrecken, dann hatten sie sich zu früh gefreut. Jana grinste in sich hinein und beschloss, das Abendessen bei Pietro’s Pizze zu ordern. Gerade als sie den Telefonhörer abnahm und die Nummer eintippte, entdeckte sie prompt eine Notiz von Mrs. Weston mit der Aufforderung, Pizza zu bestellen.
„Na, bitte. Wer sagt’s denn.“, murmelte Jana befriedigt. Sie ging zum Treppenabsatz und rief nach den Kindern. Kein Laut war zu hören.
„David! Sally! Nun kommt schon!“ Jana ungeduldig. Wieder reagierte keines der Kinder.
„Ihr könnt auch später an eurer Überraschung weiterbasteln.“ Verdammt, wieso hörten die nicht? Ein wenig beunruhigt stieg Jana die Treppe hinauf zum Kinderzimmer. Zögernd klopfte sie an die Tür. „Kommt ihr jetzt bitte raus? Ich will Pizza bestellen! Ihr müsst was essen!“, drängte sie.
„Du kannst reinkommen.“, rief David. Jana drückte die Klinke hinunter. Das Kinderzimmer war in schummriges Nachtlicht getaucht. Unnatürliche Hitze schlug Jana entgegen und es roch nach Rauch und gegrilltem Fleisch…
„Du musst keine Pizza bestellen.“, erklärte Sally. „Wir haben das Abendessen schon fertig.“ Sie deutete auf den riesigen Grill in der Mitte des Zimmers. „Das ist deine Überraschung.“
Verwirrt trat Jana näher. Auf dem Rost brutzelten riesige Fleischbrocken und daneben - auf einem kleinen Tisch - lag Mrs. Westons Kopf.