Literaturforum - Kurzgeschichten, Erzählungen, Romane, Gedichte - Bücher und eBooks

Im Morgengrauen wagte ich das Bündel Geld unter meinem Hosenbund herauszufingern und zwischen die Schaumgummieinlage und die Sohle meiner Basketballstiefel zu stecken.1000 Dollar. Danach lauschte ich ängstlich gespannt auf die Geräusche im Pabellon. Niemand schien wach zu sein. Ich begann Pläne zu schmieden bis ich eindöste.

Es war 11 Uhr 12, Mittwoch. Cara ‘e Cochino holte mich, zur Untersuchung im Lazarett.
Was ging vor? Ich war nicht krank, noch waren Rutineuntersuchungen üblich in Yare. Stundenlang liess der Arzt auf sich warten. Schliesslich kam ein grünbeschürztes, männliches Wesen und füllte, ohne mich eines Blickes zu würdigen, wortlos ein Formular aus.
Cara ‘e Cochino warf einen Blick auf das Papier, sagte „Ok“, schob mich in Richtung des Ausgangs zum Hof, und führte mich zu meinem grenzenlosen Erstaunen zu einem wartenden Krankenwagen. Mein Erstaunen wuchs als er mir Handschellen anlegte und mich aufforderte einzusteigen.
“Auf der Flucht erschossen” blitzte es durch mein Gehirn.
Wie oft hatte ich in der Zeitung gelesen, dass Sträflinge bei der Überführung in ein anderes Zuchthaus angeblich versucht hatten zu entkommen und von der Polizei auf der Flucht erschossen worden waren. Dies war die offizielle Darstellung eines Polizeimordes. Früher hatte ich das für eine gerechtfertigte Massnahme gehalten um einen Schwerverbrecher aus dem Wege zu räumen. Die Mehrzahl der Bevölkerung war der gleichen Meinung, was genauere Untersuchungen des Sachverhalts durch die Behörden unnötig erscheinen liess. Deshalb verlangten die Sträflinge normalerweise bei diesen Prozeduren die Begleitung durch einen Gerichtsbeamten. Wo steckte Patzke. Er war doch dazu da, gerade solche Vorfälle zu vermeiden. Wie dumm von mir nicht ein wenig umgänglicher mir mit ihm gewesen zu sein. Späte Einsicht, leider.
Jemand hatte dafür bezahlt mich umzulegen.Wer? Die Roba Patos, weil ich Frente ’e Papa mit einem hinterlistigen Handkantenschlag ausser Gefecht setzte, als er und Cara ‘e Loco Emiro zu erstechen versuchten? Kaum, für sie gab es andere, weniger aufwendige und befriedigendere Wege mein Leben plötzlich zu beenden. Maria? Wozu? Hasste sie mich so sehr um meinen Anteil an unserem Familienbesitz dazu zu benützen meinem Elend ein frühzeitiges Ende zu bereiten?
Die Familie Ninoskas?
Sie waren nie von meiner Schuld überzeugt gewesen? Und ausserdem, auch sie würden einfachere Methoden bevorzugen.
Die Fahrt schien Stunden zu dauern. Anscheinend planlos fuhren wir durch die Gegend. Ich machte keinen Versuch das Ziel meiner Wächter zu erfragen. Den Spott wollte ich mir wenigstens ersparen.
Am späten Nachmittag kamen wir nach Caracas.
Es überkamen mich Zweifel in Bezug auf das Vorhaben meiner Begleiter. Auf der Fahrt durch unbesiedeltes Buschland hatten sie genügend Gelegenheiten gehabt mich in aller Ruhe zu beseitigen.
Warum sollten sie mich ausgerechnet in Caracas ermorden. Und warum ausgerechnet mich. Nie hatte ich Probleme mit den Gefängnispersonal gehabt.
Mitten im Stadtteil Campo Claro, vor einer Arepera, nahm mir Cara ‘e Cochino die Handschellen ab.
„Wir gehen eine Arepa essen. Wenn wir zurückkommen wollen wir dich nicht mehr sehen.“ sagte er
Sein Schweinegesicht verriet nichts. Ich schwieg. Mit keiner Bewegung deutete ich an, dass ich seine Aufforderung verstanden hatte. Ich wartete auf eine Gruppe von Männern die in unsere Richtung schlenderten.
“Mach schon,”sagte der Beifahrer, “sonst überlegen wir uns das nochmal.”
Da ich nicht antwortete, murmelte er :
“Keine Angst, man hat uns um diesen Gefallen gebeten.”
Ich stieg aus und schloss die Autotür.
Betont langsam enfernte ich mich.
Jemand hatte für meine Freiheit bezahlt. Siedeheiss kam es mir in den Sinn, dass nur Maria dafür in Frage kam. Was fühlte sie für mich, Verachtung, wahrscheinlich? Sie hatte bestimmt mehr als die Hälfte des Erlöses aus dem Hausverkauf für diesen Handel ausgegeben. Aus Stolz, etwa. Wollte sie nichts von einem Wurm wie mir? Aber da war noch zu bedenken, dass der Erkauf meiner Freiheit kaum mit einer simplen Geldüberweisung zu erledigen gewesen war. Selbverständlich war ein grosses Risiko für sie damit verbunden gewesen. Was, wenn man sie bei der Bestechung in eine Falle gelockt hätte. Wie, wenn man sie dafür auch eingesperrt hätte? Wieviel List und Planung hatte es sie gekostet mich hier mitten in der Stadt auf die Strasse setzen zu lassen. Liebte sie mich? Das Blut pochte in meinen Ohren.
“Idiot ,” schalt ich mich, “Mitleid wird sie gehabt haben.”
Sie war eben ein feiner Kerl und beachtlichen Mut hatte sie auch. Mit wem hatte sie verhandelt und welche Garantien hatte sie gehabt, dass für ihr Geld die versprochene Leistung geboten wurde? Hatte Vicente dabei geholfen. Eigentlich hatte die Operation seine Handschrift. Bei ihm hatte ich nach meiner Inhaftierung und Scheidung meinen deutschen Pass und meine Arbeitszeugnisse hinterlegt. Vicente war Rechtsanwalt am Rande des Rechts. Er besorgte fast echte Dokumente und wusste Rat in jeder Lebenslage und war ein guter Freund. Er war übrigens einer der wenigen, die mir den Mord an Ninoska nicht zutrauten und mir aktiv zur Seite gestanden hatte. Ninoska! Tagelang, nächtelang waren meine Gedanken bei ihr gewesen. Immer weiter war ich der Wirklichkeit entglitten. Nur die ständige Gefahr im Zuchthaus hatte mich vom Wahnsinn bewahrt.

Meine aufwallende Dankbarkeit gegenüber Maria und die davon entfachten Gefühle erschienen mir als Verrat an Ninoska.
“Deine Frau hat dich reingelegt.”
So seltsam es sein mag, bis zur Stunde hatte ich mich nie dazu zwingen können über die Worte des Comandanten nachzudenken. Sträubte sich mein Unterbewusstsein dagegen? Ahnte, wusste es etwas, das mein Bewusstsein nicht akzeptieren wollte? Hatte Ortega recht mit seiner spöttischen Bemerkung. Hatte Maria wirklich den Täter gedungen? Wie sie gerade bewiesen hatte, besass sie durchaus das Zeug sich in der Unterwelt durchzusetzen. Es war nicht der Moment darüber nachzudenken.
Ich war frei, aber für wie lange. Ich hatte keine Papiere, zu wenig Geld, wusste nicht wohin und fürchtete mich vor jeder Gestalt in Uniform.
Hier im gut bürgerlichen Osten der Stadt konnte ich nicht bleiben.

Gerade wollte ich in einen Mikrobus nach Catia im Westend einsteigen, als ich hinter mir die unverkennbare Stimme Jakobs hörte:
“Long time, no see!”
Ich wandte mich nicht um. Sollte ich einfach weglaufen? Wieso denn? Jakob Klein würde bestimmt nicht gleich nach der Polizei schreien. Das war nicht seine Art. Der athletische Mannheimer widerlegte die venezolanische Volksweisheit die da behauptet “chequera mata galan - Scheckbuch sticht Kavalier“. Der immer in elegante Anzüge gekleidete 39 jährige zog die Damenwelt an wie ein Magnet und gab dafür keinen Pfennig aus. Sein Gesicht entsprach keineswegs dem griechischen Schönheitsideal. Die grau-blauen Augen mit der Adlernase dazwischen standen etwas zu eng zusammen, seine aschblonde Mähne klebte er mit Gel an den Schädel. Gewiss ähnelte er mehr dem Hauptdarsteller eines amerikanischen Mafia Films als einem soliden Bundesbürger. Aus Jakob war ich nie so recht klug geworden. In Caracas nannte er eine diskrete Import-Export Firma sein eigen. Öfters hatten wir bei mir zuhause ein Bier oder einen Whisky getrunken. Manchmal verdächtigte ich ihn Maria den Hof zu machen. Beim Tennisspielen hatten wir uns kennengelernt. Er war ein ausgesprochen schlechter Verlierer, verlor aber unglücklicher weise meistens, wenn er gegen mich spielte.
“Hallo, Boris Becker”, spottete ich .
Er verzog das Gesicht und zog mich Richtung „Da Luciano“, eines italienisches Restaurants.
Unsere Begegnung war weniger gefährlich als ausserordentlich peinlich für mich. Jakob schien nichts davon zu verspüren. Er sprach eifrig über Politik, Wetter und Formel eins. Meine Rede war einsilbig, „so“, „ja“, „nein“, „wusste ich nicht“ und dergleichen.
“Wo wohnst du denn jetzt ?” fragte er endlich leichthin.
“Welches Hotel kannst du mir denn empfehlen?” antwortete ich im gleichen Tonfall.
“Das kommt ganz auf deine finanzielle Lage an,” entgegnete er.
Sein stetiges Lächeln erlosch. Plötzlich ähnelte er dem Account Manager einer Bank der einem Kunden einen vorteilhaften Kredit anbietet, vorteilhaft für die Bank natürlich.
“Du musst an dich denken”, fuhr er fort.
“Ich habe dir doch schon öfters erklärt, dass ich Leute kenne, die an deiner Arbeit interessiert sind.”
Jetzt lächelte ich.
“Und ich habe dir doch schon öfters erkärt, dass ich davon nichts wissen will.”
“Ja schon, aber du bist doch jetzt in einer ganz anderen Situation.”
“Stimmt, die Parameter haben sich geändert, aber das Resultat ist dasselbe.”
“Gewaltig geändert. Denk noch mal darüber nach, du weisst ja wo ich zu erreichen bin.”
“Danke für das Bier,” sagte ich, stand auf und ging.
War dieses Treffen wirklich zufällig gewesen? Je mehr ich darüber nachsann umso unwahrscheinlicher schien es mir. Hatte Jakob vielleicht sogar meine Befreiung inszeniert oder zumindest dabei mitgemischt? Aus welchem Grund? Wer waren die Leute die sich für meine Arbeit interessierten? Legten sie so grossen Wert darauf, dass sie mich aus dem Knast holen liessen?
Zum anderen, wenn sie mit mir Kontakt aufgenomment hätten während ich im Zuchthaus sass, hätten sie doch über eine wesentlich vorteilhaftere Verhandlungsposition verfügt.
Maria könnte mir zumindest einige dieser Fragen beantworten. Suchte ich nur deshalb einen öffentlichen Fernsprecher? Oder hoffte ich die Stimmen meiner Kinder zu hören, wollte ich gar Maria danken? Hatte Maria wirklich das Haus verkauft?
“Es ist aus mit Maria!” davon war ich überzeugt. Warum also fühlte ich das Blut im Halse pochen, während ich mit seltsam klammen Fingern wählte.
“Diga” , knurrte eine fremde männliche Stimme.
Argwohn und Eifersucht, - zugegeben, - Eifersucht flammten in mir. Dennoch klang meine Stimme kalt und geschäftlich.
“La Señora Maria, por favor!”
“Die wohnt nicht mehr hier,” war die gelangweilte Auskunft.

Hallo Onivido
Jaaaa - das lässt mein Kopfkino aufleben. Sehr schön, wie immer neue Aspekte dazu kommen und dann am Ende immer ein wenig Überraschung, damit man Appetit auf die nächste Episode bekommt. Das ganze entrückt auch deutlich dem klischeehaften.

Ich bin gespannt, wie es weiter geht.

Gruß,
Tessy