Literaturforum - Kurzgeschichten, Erzählungen, Romane, Gedichte - Bücher und eBooks

Die Felder gehörten schon immer zu ihrem Leben. Sie waren die Verlängerung des Gartens. Wenn Meli aus dem Fenster ihres Zimmers blickte, sah sie den geteerten Feldweg, der sich durch die Maisfelder schnitt. Fast schon am Horizont waren die Silhouetten von Bäumen zu erkennen und dahinter, dass wusste sie schon seit sie auf der Welt war, folgte eine Straßenkreuzung und danach der Wald. Das Feld war ihr gut bekannt. Etliche Stunden hatte sie schon dort verbracht. Die junge Frau wohnte am Rande einer Kleinstadt; ihr gefiel das Wort »Dorf« nicht, es klang langweilig, und langweilig war es in ihrem Ort nicht. Sie hatten immerhin mehrere Gaststätten unter denen sich auch einige gute Bars befanden, ein kleines Kino und einen Anschluss an das Schienennetz. In zwanzig Minuten fuhr sie mit der S-Bahn in die nächste Großstadt. Zwar gab es im Ort einige Bauern aber »Dorf« klang ihr allzu ländlich. Die Zwanzigjährige wohnte mit ihren Bruder, ihren Eltern und ihrem Hund in dem Haus, dass sie kurz nach Melis Geburt gebaut hatten. Die Häuser die es umgaben waren alle zu dieser Zeit entstanden, eine Neubausiedlung. Als Kind hatte sie mit den anderen Kindern auf den Feldern gespielt. Auch Mais Verstecke, doch seit ein paar Jahren hatte sich etwas verändert. Meli waren die Maisfelder nicht geheuer. Des Nachts, wenn sie im Bett lag, hörte sie merkwürdige Schreie – von was war nicht auszumachen. Ihre Mutter pflegte zu sagen, dass sich irgendwelche Viecher auf den Feldern rumtrieben. Meli glaubte das nicht, sie wusste das es keine Tiere waren. Den Schreien folgte ein lautes Geraschel als ob etwas Großes durch Mais rannte. Das erste Mal, als sie die Schreie vernommen hatte, war bei Markus Geburtstags Party gewesen. Der ehemalige Klassenkamerad feierte damals seinen sechzehnten Geburtstag auf dem Gartenstückchen seines Opas. Dieses lag mit einer Seite zur Landstraße und zur anderen direkt an den Feldern. Was damals aber keinen beunruhigte. Spät am Abend, als schon viel Alkohol geflossen war, hörte Meli die Schreie zum ersten mal. Doch nicht nur sie hatte es gehört. Alle waren verstummt. Jemand drehte den alten Metallica-Song leiser. Sogar die Landstraße blieb einen Moment stumm. Jedes Auge blickte ins Feld. Wartete. Lauschte. Bis sie es hörten. «Maauuh!»
Ein Pfau? Das Feld raschelte im Wind. Sogar die betrunkenen Spaßvögel hatten Angst.«Maaauuh!» Es wahr nicht der Schrei ansich. Es war der Tonfall. Kalt. Aggressiv. Dann ein lautes Rascheln. Maiskronen wackelten. Ein paar Jungs, ermutigt vom Alkohol, schrien etwas von »verarschen« und »dem werden wir‘s zeigen« und rannten den Feldweg entlang. Mit einem Mal entbrannte Geflüster.» Was war das?« , »Ein Tier?« , »Sehr witzig!«. Abrupt brach es ab, als die Menge Schreie aus dem Feld hörte. Die Jungs schrien. Getrappel auf dem Feldweg. Die Gruppe stürzte wieder in den Garten. Atemlos. Einige ließen sich fallen. Bleiche, verstörte Gesichter zeugten von Furcht. Fragen hagelten auf die Gruppe ein. In dem ganzen Durcheinander rieselt das Geschehene nur sehr langsam durch. Um den Täter zu fangen waren die Jungen den Feldweg entlang gespurtet. Bis ein paar Meter vor ihnen etwas aus dem Feld sprang. Erst dachten sie an einen Menschen. Doch schnell war klar gewesen, dass es sich um keinen Menschen handelte. Genaueres war in dem Tumult nicht heraus zu finden. Langsam versiegte die Belustigung. Alles wurde verstaut und eine geordnete Flucht angetreten, die am alten Spielplatz endete. Um drei Uhr Nachts verscheuchte die Polizei die Übriggebliebenen Party-Gäste. In den darauf folgenden Wochen gab es ein großes Gesprächsthema. Markus Party. Viele lachten nun darüber, wobei ein Schein von Angst und Zweifel nicht aus ihren Augen wich. »Ich war zu besoffen, wahrscheinlich haben wir uns vor irgendeinem bekloppten Hasen eingeschissen!« Simon war unter den Verfolgern gewesen. Er klang nur halb überzeugt. Eher so als wäre er es gerne. Einige wilde Gerüchte flogen umher. Ein ausgebrochener Irrer, eine unentdeckte Tierart, Mutanten, Aliens und rachsüchtige Geister aus dem zweiten Weltkrieg. Das Gerede wurde abrupt von den Sommerferien unterbrochen worden. Und viele vergasen die Vorfälle von Markus Party . Bis zu diesem Herbst. Die ganze Kleinstadt hatte Vermutungen. Alle hatten in den letzten vier Jahren etwas vom Mais mitbekommen. Aber keiner hatte sich Gedanken gemacht. Bis auf Meli. Sie hatte jeden Sommer den Mais vor der Nase. Sie hatte es nicht vergessen oder sich blind gestellt. Etwas war dort. Eines Abends im Juli lief sie mit ihrem Hund noch Gassi. Elli war eine Schäferhündin von beachtlicher Größe. Trotz der späten Stunde war es immer noch schwül und drückend. Ein Gewitter schien nicht in Sicht zu sein. Nur blasse Sterne standen am Himmel. Den ganzen Tag über hatte man es draußen kaum aushalten können. So war Meli froh, als sie die schleichende Kälte umhüllte. Wie schon immer kroch sie zwischen den Maispflanzen hervor. Schlich ihre nackten Beine hoch. Kühlte sie. Das Mädchen empfand Freude über die willkommene Erfrischung. Der Abend war perfekt. Sie war bester Laune, vor ein paar Tagen hatten die Sommerferien begonnen, es war schön auf dem Feld und mit Elli an ihrer Seite fühlte sie sich sicher. Gerade als sie beschloss, dass dies ein längerer Spaziergang werden würde, blieb die Hündin abrupt stehen. Meli war so Gedanken verloren gewesen, dass sie es erst bemerkte, als die Leine heftig ruckte. Der Hund duckte sich. Ein Knurren schlich sich aus Ellis Kehle. Ihr Blick war auf den Mais hinter dem Mädchen gerichtet. Ihre Nüstern zuckten, wild nach einem Geruch witternd. Meli bekam Angst und hechtete zu ihrem Hund. Das Knurren war nicht abgebrochen. »Maaauuh!« Der Schrei zerriss die Stille. Es war direkt vor ihnen. Dort hatte sie noch vor ein paar Sekunden gestanden. Ein seltsames Geräusch, kroch aus dem Feld. Wie ein Kichern. Ganz leise. Rasselnd. Es schnüffelt! schoss es Meli durch den Kopf. Natürlich schnüffeln Tiere! Ermahnte sie sich selbst. Trotz allem blieb die Angst. Was war das? »Maaauh!« Ein gutes Stück hinter ihnen. Aus Knurren wurde winseln. Elli zerrte an der Leine. Wollte fliehen. Meli auch, doch ihre Beine nicht. Ihr Atem ging stoßweise. »Maaaauh!« Elli begann zu bellen. Das war der Startschuss für das Mädchen. Sie rannte, neben sich der Schäferhund. Noch immer schlug ihr Herz laut in ihren Ohren. Schien jedes andere Geräusch zu ersticken. Das Adrenalin lies ihren Körper kribbeln. »Mauuh!« Weit weg. Draußen auf dem Feld. Straßenlaternen kamen langsam in Sicht. Und sie blieb stehen. Schöpfte Atem und ging schließlich in die Knie. Ellis Zunge schlabberte über ihre Hand. Diesmal empfand sie es nicht als ekelig. Es hatte etwas beruhigendes. Seit dem legte sich Angst auf die Brust der jungen Frau, wenn sie die Schreie vernahm. Damals, genauso wie heute, drei Jahre später. Vor zwei Jahren hatten es die Felder ins World Wide Web geschafft. Zwar nur in den regionalen Foren, aber immerhin.
Es wurde spekuliert, dementiert und sich gegruselt. Meli konnte das nicht nachvollziehen. Sie hatte das Feld jeden Tag. Wobei es tagsüber immer noch die alte Schönheit besaß, nur wenn die Sonne unterging waren die Rufe zu vernehmen. Unter den Halbstarken des Ortes war es mittlerweile eine beliebte Mutprobe geworden, sich mit dem Rücken an den Mais zu stellen. Doch selbst die Mutigsten trauten sich nicht hinein. In diesem Sommer mied Meli das Feld bei Dunkelheit. Um einzuschlafen legte sie sich ein Hörspiel ein, dass keine mysteriösen Schreie zuließ. In den Sommerferien ging Meli als Teamerin in ein Zeltlager, sie war jetzt immerhin volljährig. Die Möglichkeit Spaß und etwas Geld gleichzeitig zu bekommen, lockte sie. So sah sie vier Wochen lang nichts vom Mais. Aus dem Zeltlager brachte sie Fred mit. Eigentlich Frederik, er war 21 und hatte gerade seinen Zivildienst beendet. Am Lagerfeuer der Teamer hatte es gefunkt. Sie verbrachte den Rest der Sommerferien mehr der weniger bei ihm.
Nachdem sie das Gymnasium geschmissen hatte, würde nun im September das neue Schuljahr auf dem Berufskolleg beginnen. So hatte sie im nächsten Jahr die Maisfelder fast vergessen. Bis sie mit ein paar neuen Schulkameraden, unter den sich zufälligerweise auch Freunde von Frederik befanden, ein Filmabend bei ihr veranstalteten. Es war Mitte Juli, ungeachtet dessen herrschte Herbstwetter und das schon seit Wochen. Die Sonne war kaum noch zu sehen, stattdessen regnete es um so mehr. Die Temperatur stieg nur selten über zwanzig Grad. Also machten sie das Beste daraus. Melis Eltern waren, nun da die Kinder »erwachsen« waren, noch vor der Saison in Urlaub gefahren. Ihren kleinen Bruder hatte sie bei seinen Kumpels »entsorgt«, die sich wahrscheinlich gerade betranken. Sturmfreie Bude. Also hatte es sich die kleine Gruppe im Wohnzimmer gemütlich gemacht. Horrorfilmnacht; die Jungs standen auf so etwas. Am Nachmittag hatten sie mit »The Shining« begonnen, danach folgte »House on Haunted Hill« und nun quälten sie sich durch »Kinder des Zorns«. Da fiel einem ihrer Klassenkameraden etwas ein: »Meli? Hier in der Nähe sind doch diese Horror-Felder, oder?« »Schau einfach aus dem Fenster.« Meli war resigniert. Seit dem Beginn des Films hatte sie mit dieser Frage gerechnet. Scheiß Internet, ging es ihr durch den Kopf. Sie hatte mit Fred auch über die Felder gesprochen. Er fand diese ebenfalls unheimlich.
Die ganze Meute schlich sich hoch in Melis Zimmer. Große Fenster wurden geöffnet, denn keiner hatte Lust bei diesem Hundewetter auf den Feldern herumzustiefeln. Sie standen im Dunkeln. Meli war sich sicher, dass sie nicht lange zu warten hatten. Der Regen prasselte unvermindert weiter. Feuchte, kühle Luft drang in das Haus. Spannungsvolles Warten wurde nur durch heiseres Gekicher und Geflüster gestört. Das Licht der Straßenlaternen erhellte das Feld gerade noch ein paar Meter. Wind ließ die Maiskronen gespenstisch wackeln. In der Ferne bellte ein Hund. Ganz leise. Die Minuten verstrichen. »Maauuh!« Ganz weit draußen. »Da war‘s!«, hauchte Tobi, Freds Kumpel. »Klang wie ein Pfau« hauchte Sarah. Sie zitterte leicht vor Aufregung. Alle starten in die Dunkelheit hinaus. Dann. Ein Schrei. »Maauuuh!» Keine zwanzig Meter entfernt. Selbst Meli zuckte zusammen. Maiskronen raschelten. Etwas rannte. Bis auf den Feldweg. Ein Kind! Nein, nur kindergroß. Bucklig. Meli glaubte übertrieben lange Finger zu erkennen, Dann war es schon wieder verschwunden. Sie hatte Gänsehaut am ganzen Leib. Adrenalin kribbelte durch ihre Glieder. Dem Gesichtsausdruck der anderen zu urteilen, ging es ihnen ähnlich. Frederik schlug die Fenster zu. »Was zur Hölle war das?« Als sie die Treppen mehr hinunter rannten als liefen begannen die Diskussionen. » Ich brauch jetzt erstmal n Bier !« Sie versammelten sich im Wohnzimmer. Die Lust auf Horrorfilme war ihnen erstmal vergangen. Meli konnte es nicht fassen, jetzt nach drei Jahre hatte sie es zum ersten Mal gesehen. Doch sie hätte lieber nichts gesehen. Die Gestalt wich nicht aus ihrem Kopf, so hatte sie sich auch ein Bier besorgt. Moderne Stressbewältigung. Mit zunehmenden Alkoholkonsum entspannte sich die Atmosphäre. Witze wurden erzählt und über mutierte Pfauen gelästert. Trotzdem war Meli froh, als der Mais im Herbst endlich abgerntet wurde. Sie hatte dutzende Tierbücher gewälzt, doch das Wesen, dass sie ausgespäht hatten, konnte sie nirgendwo finden. Der Mais blieb ein Rätsel. Ein weiteres Jahr später geschah es dann urplötzlich, mit Beginn des Augusts, waren die Schreie verschwunden. Der Mais stand friedlich in der Hochsommersonne. Wenige Tage später wurden drei Jugendliche aus dem Ort als vermisst gemeldet. Die Polizei war der Meinung, dass sie sich in die nächste Großstadt abgesetzt hatten. Es handelte sich nicht um Unbekannte, gegen die verschwundenen lagen schon mehrere Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz vor. Melis Bruder kannte die Jungs entfernt. Er war überzeugt, dass die Beamten Recht hatten. »Das waren die größten Drogenopfer an der Schule! Entweder die liegen voll zugedröhnt in der Gosse oder die rennen auf Pilzen durch den Wald.« Das war seine Meinung. Meli machte sich darüber keine Gedanken, bis zu diesem Herbsttag. Bei der Mais ernte hatte der Bauer eine Entdeckung gemacht. Ein grausiger Fund. Drei Skelette. Blank bis auf die Knochen. Nach ein paar Tagen war es klar. Es waren die vermissten Jugendlichen. Man hatte sie lediglich an ihren Zähnen identifizieren können. Die Kriminalisten gingen davon aus, dass sie an einer Überdosis irgendeiner Droge im Maisfeld verendet waren. Tiere hatten sich dann über ihre Kadaver hergemacht. Meli glaubte das nicht. Warum hatte keiner der Spaziergänger Verwesungsgeruch wahrgenommen? Bei diesen Temperaturen? Sie dachte an das plötzliche Ende der Schreie, ihr wurde schlecht. Sie war sich sicher, dass sie diese auch im nächsten Jahr nicht mehr hören würde.