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Prinzessin Weißröckchen lebte mit ihren Eltern, der Königin Sauberfein und dem König Blitzesrein in dem wunderschönen Land Güldenschein. Dort gab es nirgendwo Schmutz. Die wichtigste Aufgabe aller Bewohner war es, jedes Staubkorn sofort zu entfernen. In den Häusern brummten die Staubsauger von früh bis spät. Der reichste Mann im Königreich war der Staubtuchweber Wischundweg. Nicht ohne Stolz erwähnte er die Millionen Tücher, die er bis bislang gewebt und noch stolzer die Millionen, die er damit verdient hatte. Niemand im Land verübelte es ihm, denn das Putzen mit den Wundertüchern war zur Lieblingsbeschäftigung der Hausfrauen Güldenscheins geworden. Fröhlich trällernd wischundwegten sie den halben Tag. Weil es nirgendwo schmutzig war, blieben die Kleider der Leute porentief rein. Die leeren Waschmaschinentrommeln gähnten vor Langeweile, denn nur noch selten im Jahre durften sie fleißig sein. Überall roch es förmlich nach gar-kein-Staub. Sogar die Straßen blitzten vor ritzentiefer Sauberkeit. Kehrwagen mit riesigen Lupen an den Kotflügeln kontrollierten pausenlos, ob sich irgendwo ein Dreckkrümel versteckt hielt. Entdeckten sie solch einen Störenfried, fegten sie ihn auf das mächtige Kehrblech und machten ihm so den Garaus.

An heißen Sommertagen feierten die Familien fröhliche Straßenfeste. Tischgrills und Grillwagen blieben daheim, denn die auf dem Asphalt gebratenen Würstchen und Koteletts schmeckten dreimal besser, ein wenig asphaltig und nicht nach oller Holzkohle. Die Väter brieten das Fleisch und die Mütter beredeten den neuesten Klatsch aus der königlichen Tratschpresse. Die älteren Kinder tobten ungestüm herum und die Jüngsten krabbelten lustig vor sich hin brabbelnd übers Pflaster. Keiner verbot es ihnen, denn dort lag ja kein Dreck, der ihnen hätte schaden können. Die königliche Familie und das Volk waren wirklich um ihr blitzreines und sauberfeines Reich zu beneiden: Es überglänzte die vor Schmutz starrenden Nachbarländer ringsumher und seine Bewohner liefen meist gut gelaunt einher, weil sie sich ob der Sauberkeit recht wohl fühlten.

Es änderte sich erst an dem Tage, an dem Prinzessin Weißröckchen einen einsamen Nachmittag im Schlosse verbrachte. König Blitzesrein und Königin Sauberfein mussten zur Abwechslung einmal regieren. Dagegen hatte Weißröckchens Mutter gar nichts einzuwenden. Denn ausschließlich als Vorbild für die Frauen des Landes daheim Staubwedelmajorin zu spielen, war ihr viel zu blöd. Im Parlament dagegen durfte sie stundenlange Reden schwingen und keiner wagte es, sie etwa zu unterbrechen. Weißröckchens Vater genoss es sehr, dass seine Frau diese ausgesprochen lästige Aufgabe übernahm. Endlich rauchte ihm vom anstrengenden Erlassen und Für-nichtig-Erklären der Gesetze nicht mehr der königliche Kopf. Deswegen hütete er sich, zu den Ansprachen von Königin Sauberfein noch seinen Senf dazuzugeben - obwohl es selbstverständlich ein sehr kluger Senf gewesen wäre - und grübelte lieber über das neueste Fußballergebnis nach. Auch das zählte zu den zwingenden Aufgaben eines Königs, fand er.

Prinzessin Weißröckchen langweilte sich derweil zu hause. Den Dienern war befohlen worden, sich daheim vors Heimkino zu begeben. Sie waren schon sehr frühzeitig verschwunden, um sich bei einer Flasche Bier, Salzstangen und wenigstens fünf Tüten Goldfischli auf das mindestens dreistündige angestrengte Zuhören vorzubereiten. So streifte die königliche Tochter durch die Säle. Überall strahlte ihr gelbgüldene Sauberkeit und strenge Ordnung entgegen. Nirgendwo lag eine Robe der Mutter oder gar eine Pluderhose des Vaters herum. Alles befand sich genau auf dem ihm zugewiesenen Platz.
„Im Museum ist mehr los! Was mach ich denn bloß mal?"
Es geriet zu einem recht langen Seufzer, denn es wollte ihr nichts Rechtes einfallen. Geknickt verzog sie sich ins Kinderzimmer. Die schönen Spielsachen blieben unbeachtet in den Regalen liegen. Selbst die süße Puppe Babsie und der Teddy Plumchen heiterten sie nicht auf. Die vielen Bilderbücher konnte sie leider noch nicht lesen, denn die Prinzessin war erst fünf Jahre alt. Und die Telefonnummer ihrer Freundin aus dem Kindergarten wusste sie dummerweise auch nicht. Aber auf einmal guckte sie gar nicht mehr mürrisch. Weißröckchen war nämlich der königliche Flimmerkasten eingefallen. König Blitzesrein und Königin Sauberfein hatten ihr das Fernsehen zwar streng verboten, damit sie wegen der zahlreichen grausamen Filme keine Albträume bekam, aber:
„Sie merken es gar nicht. Sind ja weg!“
Munter flitzte sie ins Arbeitszimmer ihres Vaters, machte es sich in dem gewaltigen Ohrensessel gemütlich, griff sich die Fernbedienung und zappte gespannt durch die vierzig Programme. Die doofe Politik interessierte sie verständlicherweise kein bisschen und die Reiseberichte waren ihr zu wenig aufregend. Beim 29. Programm aber stutzte sie und starrte ungläubig auf den Bildschirm. Dort spielten fröhliche Kinder, was eigentlich nichts Außergewöhnliches war. Aber die tollten nicht etwa, wie Weißröckchen immer, in sauberfeinen Kleidern und Hosen umher, sondern standen knietief in einer Pfütze, bewarfen sich jubelnd mit Schlamm und schmierten sich lachend von oben bis unten damit ein. Überall Matsche, im Gesicht und am ganzen Körper nur Dreck. Überhaupt ähnelten sie eher den Gruselgestalten aus Weißröckchens Gespensterbilderbuch.
„Das macht denen ganz dollen Spaß!“
Weißröckchen wurde neidisch. Aber sie wäre ja nicht das kluge Kind ihrer überaus klugen Eltern gewesen, wenn es sie nicht auf eine ausgesprochen lustige Idee gebracht hätte. Fix schaltete sie das Fernsehen aus und verließ das Arbeitszimmer wieder.

Vergnügt hopste die Prinzessin hinaus in den Schlosspark zu den tollen Blumenbeeten, welche die Königin sogar selber angelegt hatte. Sie sprang über den Minizaun davor und landete mit den strahlendweißen Sandaletten in der schwarzbraunen Blumenerde. Die waren dann die längste Zeit weiß gewesen, sondern sahen kurz darauf aus wie die Schuhe der Bauarbeiter auf der großen Baustelle direkt gegenüber des Schlosses. Bester Laune wühlte sie mit den Händen in der feuchten Erde herum, schmückte das langweilig weiße Kleid mit dunkelbraun-nassen Streifen und schmierte sich das Gesicht wie auch die Beine gründlich mit Lehm ein. Aus der Prinzessin in Weiß wurde ein pottdreckiger Dreckspatz. Und schon fiel ihr noch etwas Pfiffigeres ein: Laut lachend rannte sie ins Schloss zurück - selbstverständlich, ohne sich die Schuhe auf der Matte vor der Eingangstür abzutreten - hüpfte geradewegs in den prächtigen Ballsaal und tanzte ein paar Runden. Kurz darauf war der Boden von schwarzbraunen Tapsen übersät.
„Sieht lustig aus!“
Die weiße Tapete sollte genauso lustig aussehen. Begeistert patschte sie mit den verkrusteten Händen darauf herum. Der Prachtsaal verwandelte sich in eine richtige Lehmkuhle.
„So schön wie jetzt war es hier noch nie!“, lobte sich Dreckspatz Weißröckchen.
An die Eltern dachte sie da mit keinem Gedanken.

Bei ihrer Rückkehr gegen Abend entdeckten die überarbeitete und deshalb völlig dösige Königin Sauberfein und ihr ebenfalls erschöpfter, allerdings wegen fehlenden Arbeitseinsatzes nicht ganz so schlafbedürftiger Ehemann Blitzesrein das durchwühlte Blumenbeet. Die Pflanzen lagen wild verstreut zertreten auf der Erde. Die wütende Königin wurde urplötzlich hellwach:
„Wer hat die Unverfrorenheit besessen, meine majestätischen Blumen zu zertrampeln?“, entfuhr es ihr mit schriller Stimme.
Die Beiden betraten das Haus. Überall Schuhspuren.
„Was ist hier los?“, schrillte Sauberfein noch schriller.
„Jedenfalls ist jemand durchs Schloss gegangen!“, stellte Blitzesrein zwar unter Schock, aber dennoch so sehr zutreffend fest.
Wen er verdächtigte, äußerte er sicherheitshalber nicht. Bereits leicht zittrig auf den Beinen, setzte Sauberfein, inzwischen ebenfalls eine leichte Ahnung hegend, angestrengt einen Fuß vor den anderen. Zu ihrem Entsetzen leitete sie die Spur in den geliebten Ballsaal. An der Tür blieb sie wie gelähmt stehen. Die Wände waren verziert mit -zig braun-lehmigen Flecken und den Boden bedeckte eine dicke Schmutzschicht. Der einst hoch elegante Saal hatte sich in einen Saustall verwandelt.
„Iihiih!“, gurgelte Königin Sauberfein mit ersterbender Stimme, sackte wie ein nasser Sack zusammen und, wie es sich in solchen Situationen für hochedle Damen geziemt, in Ohnmacht.
Da bewies sich, wer sich ein wahrer Herrscher nennen durfte. König Blitzesfein behielt nämlich trotz der einsetzenden Sorge um seine Frau die Übersicht, raste mit seinem Luxusauto zur besten Parfümerie Güldenscheins und erstand zur Errettung der geliebten anderen Hälfte eine extra große Flasche des Parfüms ´Dornröschenkuss`. Auf dem schnellsten Wege brauste er zurück und hielt sie Sauberfein unter die königliche Nase. Der ´Dornröschenkuss` machte sogar ohne ´Kuss` seinem Namen alle Ehre und die Königin schlug die Augen auf. Der Anblick ihres Ehemannes brachte sie denn rasch wieder auf die Beine.

Von all dem hatte Weißröckchen nichts mitbekommen. Nach dem tollen Matschspiel höchst zufrieden, hatte sie sich erschöpft ins Bett gelegt, war während des Schlosszustandsberichtes an Babsie sowie Plumchen selig eingeschlafen und erst gerade erfrischt wieder wach geworden. Sie merkte sofort, dass sich im Hause etwas tat.
„Mama und Papa sind wieder da!“, folgerte sie ebenfalls sehr richtig, schwang sich aus dem Bett und stürmte in den Ballsaal.
Was sie in dem vornehmen Raum angerichtet hatte und wie sie selber jetzt aussah, schien sie vergessen zu haben.
„Juhuuh, ihr seid zurück!“, fiel sie pottdreckig, wie sie war, der piekfein gekleideten Mutter um den Hals.
Die schaute sie an und stand prompt kurz vor einer zweiten, dann bestimmt sehr viel längeren Ohnmacht. Blitzesrein griff blitzschnell ein weiteres Mal zum ´Dornröschenkuss` und verhinderte das Schlimmste. Wessen er sich jedoch so schnell nicht mehr erwehren konnte, war die wilde Umarmung des töchterlichen Schlammspatzes.
„Igitt, meine Staatsrobe!“, kreischte Königin Sauberfein so gar nicht mehr fein.
„Oh je, mein Beinkleid!“, meckerte König Blitzesrein so gar nicht mehr rein.

Das lähmende Entsetzen stand ihnen deutlich in die von einer braunen Kruste überzogenen, darunter wachsbleichen Gesichter geschrieben. Der Anblick des unbekümmert strahlenden Töchterchens aber machte den Albtraum zwar nicht ungeschehen, aber es besänftigte König und Königin zunehmend. So kam es dazu, dass die Drei schließlich gemeinsam in den riesigen Spiegel an der Wand schauten. Fassungslos musterten sie die Matschgestalten, die ihnen von dort entgegen sahen. Trotz allen Ärgers zuckte es in ihren Gesichtern und dann prusteten sie los.
„Eigentlich ist es gar nicht so schlimm!“, schlug Blitzesrein-so-gar-nicht-mehr-rein zögernd vor.
„Im Grunde genommen lebt es sich so einfacher!“, ergänzte Sauberfein-so-gar-nicht-mehr-fein.
Selig meinte Weißröckchen Dreckspatz dazu:
„Sieht toll aus!“
Sie erntete noch nicht einmal Widerspruch.

Am Tage darauf zogen sich die Königin und der König, weil es sich um ein Beschluss größter Wichtigkeit handeln würde, so nachdenklich wie fast niemals zuvor zur ausgiebigen Beratung ins königliche Arbeitszimmer zurück. Dreckspatz Weißröckchen hockte vor der Tür und spitzte die Ohren. Der König und die Königin wogen ab, verwarfen und überlegten noch gründlicher. Wegen der überragenden Bedeutung der Stunde für das ganze Volk von Güldenschein nahm König Blitzesrein-so-gar-nicht-mehr-rein sogar in Kauf, dass sein Kopf vor lauter Grübeln wieder zu rauchen begann. Königin Sauberfein-so-gar-nicht-mehr-fein riss sich wegen des Ernstes der Lage tatsächlich doll am Riemen, hielt nur eine sehr kurze Rede und gestattete es sogar, dass ihr Gemahl sie ab und zu unterbrach, um auch etwas anzumerken.
„Was werden die Leute bloß dazu sagen?", fragte sie.
„Es wirft die Verfassung über den Haufen!", stellte er fest.
Wieder schwiegen sie. Nach einer Weile aber blickten sich die Beiden lächelnd an.
„Wir haben Weißröckchen noch nie so glücklich gesehen!!"
Die Entscheidung war gefallen. Am nächsten Morgen ließen sie überall im Lande Plakate aufhängen:
„Von heute an ist es in unserem geliebten Güldenschein strengstens untersagt, länger als eine Viertelstunde am Tag zu putzen. Stattdessen wird gefeiert und die Kinder dürfen nach Herzenslust im Dreck tollen!"
Das Volk jubelte. So stolz sie auf ihr blitzreines und sauberfeines Land gewesen waren, umso mehr noch zeigten sie sich jetzt einverstanden. Ja, dies war wirklich das klügste Gesetz, das der König je erlassen hatte.
„Hoch, der Königsfamilie ein dreifaches Hoch!“
Auch Weißröckchen, König Blitzesrein-so-gar-nicht-mehr-rein sowie Königin Sauberfein-so-gar-nicht-mehr-fein strahlten um die Wette.

Die Staubsauger pusteten erleichtert aus und erholten sich von der jahrelangen Plackerei. Die Waschmaschinen dagegen drehten fast ununterbrochen die Trommeln und veranstalteten Rundenwettbewerbe. Die Hausfrauen trällerten bei der Arbeit noch fröhlicher als bisher. Sie kauften nur noch selten Staubtücher und sparten so viel Geld. Die zusätzlich gewonnene Freizeit verbrachten sie mit den Kindern oder saßen beim Kaffeekränzchen zusammen und tratschten über den Klatsch in der neuen, denn zweiten Illustrierten, die Königin Sauberfein zwecks umfangreicheren Leseangebots herausgegeben hatte. Die Kinder tobten übermütig kreischend so lange durch die Schlammpfützen, bis sie ihnen fast zum Verwechseln ähnlich sahen. Endlich durften sie das tun, was alle Kinder dieser Welt so gern taten. Und was machte der Staubtuchweber Wischundweg? Nun, er webte statt der Millionen Staubtücher eben nur die halbe Anzahl davon, verdiente auch nur noch die Hälfte der Millionen und - war trotzdem glücklich.