Literaturforum - Kurzgeschichten, Erzählungen, Romane, Gedichte - Bücher und eBooks

Tschöö

Die Möbelwagen sind gepackt, die jüngsten drei Kinder verteilt bei Verwandten und Bekannten. Ich liege auf einer Matratze im sonst leeren Haus und kann nicht schlafen. Ein letztes Mal habe ich meine Freundin Gina gesehen, meine Lieblingsnachbarin. Ich wische mir die Tränen ab, ich muss schlafen, denn der morgige Tag wird anstrengend. Wir verlassen Velten, die Siedlung, die Menschen, die mir in den letzten Jahren ans Herz gewachsen sind. Die Leere des Hauses legt sich wie Blei auf meine Seele. Ich hadere mit Gott. Er hätte alle Mittel und Wege gehabt, dass wir bleiben können, dass die Kinder nicht aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen werden. Sanne, eine liebe Freundin, die vor nicht allzu langer Zeit aus der Kirche ausgetreten ist, sagte in mein Grollen hinein: " Gott meint es doch immer gut!" Peng, das hatte gesessen, ein kleiner Satz, den mir Gott als kleine Erinnerung mitgab.
Unruhig schlafe ich ein.
Im Morgengrauen stehen wir auf, gehen in Sannes leer stehendes Haus, die uns zum Abschied liebevoll den Frühstückstisch gedeckt hat. Anschließend ist die halbe Nachbarschaft auf den Beinen, packt mit an. " Der Dicke" , Alt - Hennigsdorfer- Urgestein frohlockt, er darf heute den Umzugs- LKW fahren- einer seiner wahrgewordenen Kindheitsträume. Irgendwann ist wirklich alles verstaut, werden die Luken geschlossen und ab geht es. Ich fahre mit unserem VW- Bus mit Anhänger hinterher.
Sanne ist ein Schatz. Sie bringt mit meiner Schwester zusammen unser ehemaliges Domizil auf Vordermann. Welch Erleichterung!
Die Fahrt scheint kein Ende zu nehmen. Allmählich verändert sich die Landschaft. Nun ist nicht mehr unser geliebtes Flachland zu sehen, stattdessen Kurven und liebliche Hügel. Nach gefühlten zig Stunden fahren wir am Ortseingangsschild " Katzenelnbogen" vorbei, " Willkommen in der Einkaufsstadt im Einrich" . Ich denke:" Um Himmels Willen, was haben wir getan!" Die Untertalstraße ist abgesperrt. In der liebevoll durch unsere Gemeinde hergerichteten Wohnung warten mir fremde Helfer. Bleche mit den leckersten kulinarischen Genüssen werden als Begrüßung aufgefahren. Ich spüre die Herzlichkeit und greifbare Hilfsbereitschaft. Dennoch fühle ich mich fremd, bin erschöpft, habe eine tiefe Trauer in mir. Die Gemeinde freut sich wirklich auf unser Kommen. Dieses Willkommensein ist Balsam für meine Seele. Die Zimmer unserer beiden Ältesten sind als Erstes eingeräumt. Ich erahne auch ihre Trauer und Unsicherheit.
Die nächsten Wochen sind gefüllt mir Kistenauspacken, Schul- und Kindergartenanmeldungen. Unser Sohn kommt aus der Schule und meint, er solle etwas zum "Schnuckeln" mitbringen. Zum Schnuckeln? Ich verstehe nur "Bahnhof".
Unsere neue Heimat fühlt sich noch lange nicht wie Heimat an. Wir werden nun mit " Guude" gegrüßt, wohnen im "Einrich" und dann wieder im " Flecken". Es braucht einige Zeit, um diese Bedeutungen zu entschlüsseln. Unsere Wohnung liegt direkt über einem Buch- und Schreibwarenladen, was besonders in der Adventszeit eine Herausforderung darstellt. Direkt unter dem Arbeitszimmer meines Mannes steht ein Verkaufstisch mit einem Weihnachtsmann, der nonstop "Merry Christmas" dudelt. Konzentration ist kaum möglich.
Ein Jahr später dürfen wir wie aus heiterem Himmel hoch zur Schule ziehen, in unser eigenes Haus. Der Schul- Dong dringt zu uns herüber und bald kennen wir das gesamte Repertoire des Musikunterrichts. Unser nochmaliger Umzug, so nah am Schulzentrum, bringt einen weiteren Vorteil mit sich. Mal ist es ein Lineal, mal der Turnbeutel, ein anderes Mal der Füller- die Mädchen vergessen alle Naselang etwas im gegenüber liegenden Schulgebäude. Dadurch gewinnen wir eine neue Vertraute. Die Putzfrau- sie winkt die Kinder bald routiniert durch, so dass sie ihre vergessenen Utensilien holen dürfen. Der erste Winter in Katzenelnbogen ist eine Überraschung. Noch nie sahen wir so viel Schnee auf einmal. Wir trauen kaum unseren Augen. Morgens tuckert der Ortsbürgermeister heimatverbunden, höchstpersönlich durch die Straßen des kleinen Örtchens und pflügt den Schnee zur Seite. Als unsere Älteste zur Aufführung von "Anne Frank" zum Gymnasium muss, fahren wir Schritttempo, Schneeflocken fallen sanft vom Himmel - eine Winter- Wunder- Landschaft. Die Kinder genießen das ungewohnte kalte Weiß in vollen Zügen, Schlitten fahren, Schneemann bauen, das ganze Programm. Unsere Jüngste wird ein Kindergartenkind und eignet sich schnell das typische " Ge" hinter jeder Fragestellung an. Ihre ältere Schwester ist entsetzt: "Wir sind Brandenburger! Wenn du noch einmal " Ge" sagst, bekommst du nichts zu Weihnachten!!" Frech wie Oskar höre ich die fröhliche Antwort: " Ge, ge, ge, ge!"
 
Irgendwann wird das schnell den ein- heimischen Gepflogenheiten angepasste Kind hier, im " Flecke" eingeschult. Schultüten sind uns vertraut aber eine Maxi- Brezel? Scheinbar gehört dieses Riesen- Backwerk dazu, wenn man ein i- Dözchen, auch dieser Begriff ist uns völlig fremd, werden möchte. Stückchenweise frieren wir die Brezel ein, backen ab und zu etwas auf und erinnern uns an die wundersamen, regionalen Unterschiede.
Immer wieder trudeln Freunde, Bekannte und Verwandte aus Sachsen- Anhalt, Berlin und Brandenburg ein. Sie sagen: „Oh, wie niedlich, die hübschen Fachwerkhäuser!" und " Die Landschaft ist ja so herrlich!" Es stimmt, wenn wir aus dem Wohnzimmerfenster sehen, erstreckt sich ein atemraubendes Panorama vor unseren Augen.
Ich denke daran, wie ich meine jetzige Freundin Ulla kennenlernte. Das erste Mal kam sie mir schwer bepackt mit drei Kleinkindern auf den Stufen der Bibliothek entgegen. Ich sehe sie heute noch, ein Kind auf dem Arm, eins an der Hand und eins rutschte die Treppe hinunter. Mitleid und Verständnis überkamen mich. Später stellten wir fest, dass wir nicht nur dieselben Bücher lasen ... Mit der Zeit lerne ich die unterschiedlichsten Frauen kennen. Einige von ihnen kommen bald ein Mal monatlich zu uns ins Haus, zum gemeinsamen Frühstück, Nachdenken und Reden über Fragen des Glaubens und des Lebens. Der Kontakt zu diesen Frauen hilft mir, mich hier heimisch zu fühlen, hier Fuß zu fassen.
 
In unserer neuen Heimat ist einiges anders. Die kurvigen Straßen flößen mir anfänglich Respekt ein, so dass sich lange Autokolonnen hinter mir stauen und ich des Öfteren ungeduldig angehupt werde.
Seit ein paar Jahren halten auch die Ritter Einzug auf der Weiherwiese. Während dieses Mittelalter- Festes kämpfen stolze Männer mit Lanze gegeneinander, kauft man selbstgebackenes Brot und Met in den Tavernen und genießt ein ganz besonderes Flair. Sogar Paare können dort den Bund fürs Leben schließen, nach altem Brauch mit Blumenkranz und mit Riemchen umwickelten Händen. Eine unserer Töchter entwickelte in diesen Tagen eine Geschäftsidee. Sie stellte ein Schild auf für die Besucher des Ritterfestes und bot ihnen unsere Toilette für 50 Cent an.
Weiterhin gibt es Märkte, den Frühlingsmarkt, den Pflastermarkt, den Herbstmarkt und den Weihnachtsmarkt, bei dem die gesamte Untertalstraße lahm gelegt ist und die Leute bei Glühwein noch bis in den späten Abend hinein erzählen. Der legendäre Bartholomäusmarkt ist wohl der außergewöhnlichste und findet im August statt mit Heimatabend, Rummel und vor allem dem Festumzug, der ein klein wenig an Rosenmontag in Köln oder Mainz erinnert. Die Zeit und Kreativität, die hier investiert werden, begeistern mich. In einem Jahr trug der Bartholomäusmarkt das Thema " Filmklassiker" . Zu diesem Anlass fuhr beispielsweise eine Kutsche mit Sissi und Franz durch das Örtchen und die Blues- Brothers zückten ihre Sonnenbrillen beim Aussteigen aus ihrer Limousine. In diesen Tagen herrscht Ausnahmezustand in Katzenelnbogen. Die Musik und Rummel- Geräusche schallen quer durch den Ort, so dass man beteiligt ist, ob man will oder nicht. Am Markt- Dienstag, dem letzten Tag des Festes, findet der so genannte Krammarkt statt. Händler aus Nah und Fern bieten alles zum Verkauf an, vom Fensterputz- Zubehör bis hin zum Cowboyhut. Das viertägige Spektakel findet sein Ende durch das alljährliche Feuerwerk um Punkt Mitternacht und dem Vergraben der "Kerb", bestehend aus Zylinder und Halstuch durch die Marktburschen und Marktmädchen. Bei Nachfrage erfahre ich, dass der Bartholomäusmarkt an die Verfolgung der Hugenotten erinnert.
 
Irgendwann, ich komme gerade von meiner Arbeit im Altenheim, klingelt es an der Tür. Kurz vorher biegt das gelbe Postauto um die Ecke. Gedankenverloren kaue ich auf einer Möhre und öffne die Haustür. Plötzlich sind eine Kamera und ein Mikrofon auf mich gerichtet. In meinen Ohren rauscht es, mir wird heiß und kalt und ich höre folgende Worte :" SWR3, Frau Friedemann, woher kommt der schöne Name Katzenelnbogen?" Voller Panik sage ich:" Ich habe eine Möhre im Mund!" und knalle die Haustür zu. Sekunden später öffne ich sie vorsichtig und antworte etwas verstört, erzähle von "die Dörsbach" und den Katten. Mein Mann kommt dazu und ergänzt mit seinem Wissen über die Namensgebung. Wochenlang lebe ich in Angst und Schrecken, dass dieser , mein unrühmlicher Fernsehauftritt, wirklich übertragen wird. Wochen darauf sehe ich zufällig diese Fernsehsendung und " Gott sei Dank" mein stotternder Live- Auftritt ist nicht dabei.
 
Ich durchlaufe unser Haus, sehe in Gedanken, meine Großfamilie am Esstisch sitzen, Freunde und Bekannte bei den Konfirmations- Nach- Feiern auf der Terrasse klönen, Fredi unseren Garten bearbeiten, " meine" Frauen beim Schrottwichteln in der Weihnachtszeit, sehe uns fröhlich Gesellschaftsspiele spielen, beobachte die Grundschüler zu unserem Gemeindehaus pilgern, um " Hilfe, die Herdmanns" , das alljährliche Theaterstück der Theatermäuse" und der " Bühnenbande" zu besuchen, höre Kinderlachen und Musik aus der Schule dringen. Bald wird dieses Haus nicht mehr uns gehören. Als wir es kauften, tönten wir " großspurig", dass wir unser Herz nicht an dieses Haus hängen wollen, dass wir es als Geschenk auf Zeit betrachten wollen. Nun hängt mein Herz natürlich an diesem Zuhause, wo wir 11 entscheidende Jahre mit unseren Kindern verleben durften, in denen aus Kindern Erwachsene wurden, in denen ich Kindertränen trocknete, tröstete und mit der Family in der Küche alberte. Vor zwölf Jahren fiel es mir so schwer, ins so genannte " Wessiland" zu gehen- mit Vorurteilen behaftet gegenüber den alten Bundesländern. Diese Vorurteile beschämen mich heute, denn ich begegnete Menschen mit einer großen Offenheit und Herzlichkeit.
 
Manchmal denke ich, dass dieses Loslassen von Dingen, Menschen, Häusern und Vertrautem mein Leben durchzieht, vielleicht das Leben eines jeden Menschen. Wurzeln werden gekappt, Hände lassen los, um Platz für Neues zu schaffen, für andere Kontakte und Dinge. Vielleicht ist das die Lektion des Mysteriums Leben, dass wir hier auf der Erde nichts für ewig besitzen.
 
Es klingelt an der Tür. Die junge Frau, die bald in unserem Haus wohnen wird, steht mit Blumen in der Hand und Tränen in den Augen vor mir. Um Fassung ringend sage ich: " Ich freue mich, wenn Menschen hier wohnen werden, die das Haus so lieben werden wie wir.