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Die Geheimnisvolle


Prolog

Das Kölner Fußballstadion tobt, gleißendes Licht, Grönemeyer rockt die Bühne und ein nicht mehr ganz junges Paar wiegt sich, ein paar Reigen vor uns, Arm in Arm zu seinen Klassikern " Halt mich " und "Flugzeuge im Bauch". Vor kurzem erhielt ich zwei Konzertkarten für dieses Event, doch durch eine schwere Augenentzündung meines Mannes stand ich plötzlich ohne Begleitung da. Ein Geistesblitz brachte mich auf die glorreiche Idee, meine Freundin Isa zu fragen, die glücklicherweise wieder in meiner Nähe wohnt.


Ein Blick zurück.
Ferieneinsatz im Paul- Gerhardt- Stift. Ich bin 16 Jahre alt und der Sommer ist brütend heiß. Im Wohnzimmer der Krankenpflegeschule sitzt mir ein junges, blondes Mädchen gegenüber. Wir lächeln uns an und reden ein paar belanglose Sätze. Im September werden wir beide zusammen Krankenschwester lernen. Kurz entschlossen versprechen wir uns, gemeinsam ein Zimmer zu teilen.
Wochen später ist es soweit, aus einem Lächeln und einem mündlichen Versprechen wird Ernst. Wir ziehen in ein schlauchartiges Drei- Mann- Zimmer. Mit bei uns im Internatszimmer wohnt die ebenfalls blonde, hibbelige Kerstin, die regelmäßig verschläft, ihren armen Wecker schlägt und mit einem wütenden " Sch..." aus dem Bett springt. Da sie aber nicht zu unserem Kurs gehört, entwickelt sich kein intensiver Kontakt. Isa und ich schlafen im Doppelstockbett. In den ersten Wochen gibt es kleine Anpassungshürden, Isa öffnet das Fenster nachts und ich schließe es ebenso regelmäßig, da mein Vater mich zu Hause, aus Sorge vor einer weiteren Angina, hermetisch vor jedem Windhauch abgeriegelt hat. Mit zweifach gefalteten, weißen Häubchen, dem Erkennungszeichen für Schülerinnen, stürzen wir uns stolz und erwachsen fühlend in das sogenannte Vorschul- und "Pröbchenjahr". Nach kurzer Zeit ziehen wir in das schönste Zwei- Mann- Zimmer des Internats mit herrlichem Ausblick in den Garten des Krankenhauses. Morgens schleppen wir uns mit verquollenen Augen, stumm in das schräg gegenüberliegende Badezimmer, unfähig, irgendetwas zu sagen. Auf dem Rückweg in unser Zimmer pressen wir nur mühsam ein " Morgen" heraus. Diese Morgenmuffel- Veranlagung ist auch fast die einzige Gemeinsamkeit, die Isa und mich verbindet.
Isa ist das "Yin" zu meinem "Yang" , sie schweigt, wenn ich rede, zieht sich zurück, wenn ich im Gewühl der Menge untertauche. Ihre Kleidung liegt Kante auf Kante, ordentlich zusammengefaltet, in ihrem Schrank, das Ergebnis eines prägenden Unterrichts ihrer in der Wäscherei arbeitenden Mutter. Neidvoll sehe ich auf meine Kleiderhügel, die solche Ordnung maximal eine Woche in einem Anflug von Enthusiasmus erleben. In unserem Zimmer befindet sich ein alter Holzschrank, in dem wir in einer Plastikschüssel unser dreckiges Geschirr stapeln. Dies führt bei unserer Unterschiedlichkeit zu kleinen Streitereien, da ich sammle, bis kein sauberer Löffel mehr zu finden ist. Durch Isa erhalte ich Sächsisch- Unterricht in Hardcore. " Dreksch, ecksch, specksch, ..." Seltsamerweise sprechen sächsische Erzgebirgler zuerst den Nachnamen einer Person aus, die Köhler, Isa; die Friedemann, Anna, wobei ein A stets als O zu formulieren ist.
Isa fährt an freien Tagen an den Bergwitzsee, um sich zu bräunen und zu schwimmen. Ich meide Kälte, wenn es irgendwie geht, betrete Wasser nur bei mediterranen Temperaturen und erreichte die Schwimmabzeichen nur mit Prusten, Wasserspucken und einer mich vom Startblock schubsenden Hand.
Isa föhnt sich ihre schönen blonden Haare in aller Seelenruhe, auch wenn sie zur Bahn muss, der Bahnhof eine Viertelstunde zu Fuß entfernt liegt und die Abfahrt in zehn Minuten stattfinden soll. Herzklopfend, sie innerlich anfeuernd, stehe ich in solchen Momenten neben ihr. Durch Isa lerne ich die Lieder des Rumänen Peter Maffay kennen, für dessen Musik sie schwärmt.
Sie besitzt die Gabe des fotografischen Gedächtnisses. Während ich kontinuierlich lernen muss, zieht sich Isa einen Tag vor der Prüfung zurück, um dann die besten Ergebnisse zu erzielen. Schmerzlich muss ich erkennen, dass niemand diese Gabe erlernen oder kopieren kann.
Zu meinem Krankenpflegekurs gehören auch sogenannte Adventistinnen. Adventisten leben keine Hierarchie, duzen sich von daher prinzipiell, was etwas Verwirrung stiftet, wenn unser adventistisch glaubender Chefarzt von kleinen Vorschülerinnen im Fahrstuhl kess mit "Du" angesprochen wird. Sie feiern den Samstag als Sonntag und verzichten normalerweise auf Schweinefleisch. Durch Isa, die ebenfalls aus einer adventistischen Familie stammt, lerne ich diese Glaubensrichtung näher kennen. Eines Tages gehen wir durch Wittenberg, vorbei am Bockwürstchen- Stand, wo wir jungen Adventistinnen in der "Schlange" verschmitzt zurufen, wie sie es mit den Speisegesetzen des Alten Testaments halten. Da meine Eltern ebenfalls in Wittenberg arbeiten, nutzen Isa und ich ab und zu diese Mitfahrgelegenheit, um uns eine Auszeit in Naundorf zu gönnen. Eine halbe Stunde vom Paul- Gerhardt- Stift entfernt tauchen wir ab in die Abgeschiedenheit eines winzigen Dorfes und auch Isa lässt sich die Blut- Leber- und Bratwurst vom frisch geschlachteten Schwein schmecken.
Isa und ich teilen Freud und Leid miteinander und reiben uns an unserer Andersartigkeit. In diesen vier Jahren auf engstem Raum lernen wir nicht nur die Sonnenseiten des Anderen kennen.
Bevor ich heirate, gibt sie meinem zukünftigen Mann folgende Worte mit auf den Weg:" Halt du erst mal vier Jahre mit Anna aus!"
Na, das klang doch sehr vielversprechend!

Frühling 2016

Die Schranke öffnet sich und ich halte Ausschau nach einem freien Parkplatz vor dem Supermarkt in Montabaur. Heute habe ich ein Date mit Isa. Seit zwölf Jahren wohnen wir nur eine Stunde voneinander entfernt. Spät registrierten wir die Nähe unserer Wohnorte, spät aber nicht zu spät. Seit zwei Jahren nutzen wir diese räumliche Nähe, treffen uns zirka alle zwei Monate in der Mitte zum Klönen und Shoppen. Seltsamerweise nimmt das Shoppen immer weniger Zeit in Anspruch. Stattdessen setzen wir uns in Cafés oder Dönerbuden und reden drauflos.
Vier gemeinsam verbrachte Internatsjahre machen sich auch nach Jahrzehnten bemerkbar, wir müssen nicht viel erklären, wissen, was uns geprägt hat, wie die andere tickt.
Das Jahr neigt sich dem Ende entgegen und wir wohnen nun in Schleswig- Holstein, in einem Touristenörtchen ohne Einkaufsmöglichkeit und medizinischer Versorgung. Ich kann es kaum glauben aber Isa wagt tatsächlich eine Reise in unser abgelegenes Domizil, Bahncard 50 macht's möglich! Wir stehen uns am Bahnhof gegenüber, älter geworden und mit kleinen Lädierungen versehen. Streiflichter unserer Freundschaft ziehen an mir vorüber, Bilder einer sonnengebräunten Isa, die modisch gekleidet aus Sachsen ins Internatszimmer fliegt, Isa und mich wortkarg am Frühstückstisch sitzend, Isa, die stets von einer geheimnisvollen Aura umgeben zu sein scheint.
Menschen kommen, Menschen gehen, manche, so wie Isa, nisten sich vom ersten Tag der Begegnung in unseren Herzen ein und werden immer ein Teil von uns sein.