Anne Ahlers stapfte mit ihrer 4-jährigen Enkelin durch die weihnachtsgeschmückte Innen-stadt, die seit Tagen mit weißen, luftig leicht dahintreibenden Kristallen bedeckt wurde.
„Schau mal Paulina, ist er nicht herrlich, dieser Schnee?“
„Ja Oma der ist toll. Und morgen fahren wir wieder Schlitten, ja?“
Den ganzen Nachmittag hatten sie sich auf der Rodelbahn aufgehalten. Nun, da die Dunkel-heit allmählich die Sonne ablöste, wollten Oma und Enkelin diesen aufregenden Tag mit ei-nem Bummel über den Weihnachtsmarkt, und vorbei an fein geschmückten Schaufenstern ausklingen lassen. Paulina zog den Schlitten abwechselnd mal hinter sich her, und mal wurde sie auf ihm sitzend von ihrer Oma gezogen. Währenddessen kam das Kind aus dem Staunen über die weihnachtliche Pracht des Lichterglanzes allüberall nicht mehr heraus.
Sie bogen in die kleine Nebenstraße mit den teuren Läden ein und dann war der Weih-nachtsmarkt auch bereits erreicht, als Anne ein etwa 70-Jähriger Mann mit schneeweißen Haaren auffiel, der gedankenverloren vor der Auslage eines Edelgeschäftes stand. Mit seiner leicht untersetzten Statur und seinem Vollbart hätte er beinahe die Idealbesetzung des Weihnachtsmanns abgegeben. Jedoch nur fast, denn plötzlich begann er sich heftig zu erre-gen, flüsternd zwar nur, und dennoch passt das sogar nicht zum Liebling der Kinder.
„Nein, nein, nein, dieses Jahr fällt Weihnachten aus für mich. Das ewige Weihnachtsliederge-dudel auf den Christkindlmärkten und die vielen weihnachtsdekorierten Schaufenster sind ja nicht zum Aushalten. Soll doch nur den Verkauf anregen, wollen alle bloß unser Geld. Das Fest ist zur reinen Konsumorgie verkommen.“ Hält er Selbstgespräche, oder mit wem redet der Mann, überlegte Anne. Noch bevor sie mit ihrer Enkelin an ihm vorbeigegangen war, schimpfte er leise aber unüberhörbar doch mehr an sich selbst gerichtet, weiter.
„Ich mach´ das nicht mehr mit: kalkulierte Gefühlsduselei im Fernsehen, sakrale Reden im klebrig-salbungsvollen Ton von der Kanzel, krampfhaft um Harmonie bemühte Erwachsene. Das wirkt alles so aufgesetzt, unecht, geradezu abstoßend.“ Keine Frage, der Mann redete sich in Rage. Nichts wie weg hier, dachte Anne, und zog den Schlitten mit Paulina energisch weiter.
Bevor der ältere Herr jedoch weitersprechen konnte, fasste Anne einen Entschluss, völlig un-überlegt und spontan. Sie blieb stehen und wandte sich an ihn.
„Entschuldigen Sie, dass ich Sie ansprechen, aber sie waren nicht zu überhören. Brauchen Sie irgendwie Hilfe?“ Erst etwas zeitversetzt realisierte der Mann angesprochen worden zu sein. „Oh, entschuldigen Sie, ich wollte sie nicht belästigen. Ich dachte, ich sei alleine. Habe nur so laut vor mich hingedacht.“ Ihm war die Situation sichtlich unangenehm. Anne hakte behutsam nach: „Sie mögen Weihnachten nicht?“ Anne war über sich selbst verblüfft, denn eigentlich entsprach dieses Vorgehen so ganz und gar nicht ihrer Art. Nun jedoch war die Frage gestellt und sie wartete freundlich lächelnd, aber mit mulmigem Gefühl, auf eine Reaktion des älteren Herren.
Etwas verlegen antwortete er mit Resignation in der Stimme: „Ach, bis letztes Jahr feierte ich Weihnachten, wie fast alle, halt alt hergebracht, wie ich es schon von meinen Eltern kenne, und das sogar ziemlich gerne. Immer derselbe Ablauf: Kaffee und Stollen, danach Kirche, anschließend stets das gleiche Essen, alljährlich die Unzufrieden-heit, weil die Kinder sich am Heiligabend nicht oder zu kurz blicken lassen, usw.“ Und das Jahr für Jahr.
Das kam nun doch überraschend für Anne.
Sie wollte es deshalb genauer wissen: “Was hat sich dieses Jahr verändert, dass Weihnachten für sie nicht mehr akzeptabel ist, wenn sie mir die Frage erlauben?“
Der Mann wurde ruhiger, nachdenklicher, traurig. „Der Tod meiner Frau vor vier Monaten lässt mich vieles mit anderen Augen sehen. Auch das Christfest. Eigentlich ist das Weihnachtsfest doch ein Relikt aus längst vergangener Zeit. Das ist mir in den letzten Wochen klar geworden.“
„Können sie dem Fest denn trotzdem noch etwas Gutes abgewinnen?“, hakte Anne nach.
„Wissen sie, was mich wirklich berührt?“ er blickte melancholisch auf Paulina, „Das sind die ganz jungen Kinder, für die Weihnachten noch ein Ereignis ist, als befänden sie sich mit Alice im Wunderland. Das Leuchten ihrer Augen beim Anblick eines hell erleuchtenden Weih-nachtsbaumes, oder wenn sie in der Kirche vor der Krippe stehen. Das Weihnachtskekse ba-cken mit den Eltern, und dabei ausgelassen die „Weihnachtsbäckerei“ zu besingen, die Unge-duld unmittelbar vor der Bescherung. Das als Erwachsener zu erleben ist unbezahlbar. Ich habe das im letzten Jahr bei meiner Enkelin beobachten dürfen. Das sind Momente für die das Weihnachtsfest bestimmt ist, will man es nicht nur auf die kirchliche Bedeutung be-schränken.“
Anne schwieg einen Moment. „Nun, es ist uns nicht mehr möglich, Weihnachten mit Kinderaugen zu betrachten. Was aber spricht dagegen, unsere Einstellung ein wenig zu verändern? Die Zeiten wandeln sich, und wir wandeln uns auch.“
„Ich weiß nicht, was sie meinen“, entgegnete der Mann irritiert.
„Wenn sie mögen, kommen sie doch ein paar Schritte mit uns mit über den Weihnachts-markt, bevor wir hier zu frieren beginnen. Ich erkläre ihnen dann, was ich meine.“ Anne wur-de zunehmend sicherer.
So bummelten die drei, also Anne, Paulina und der fremde Mann, über den Weihnachts-markt, vorbei an Glühweinständen, Crepes-Buden, Baumschmückauslagen, Lebkuchenange-boten und Spielsachen. Immer wieder zeigte sich Paulina hellauf begeistert vom Lichtermeer der Weihnachtsketten, vom Mandelduft der Rösterei, von der Straßenmusik.
Währenddessen sprach Anne weiter: “Ich meine, wer hindert uns daran, mal frei vom Ein-kaufsdruck über den Weihnachtsmarkt zu schlendern, um die von ihm ausgehende Atmo-sphäre auf uns wirken zu lassen, ohne dabei den einzelnen Verkaufsstand im Blick zu haben? Wenn ich mag, erstehe ich einen Lebkuchen, oder genieße einen Glühwein, ich muss es aber nicht. Wenn mir danach ist, und nur dann, schaue ich mal in die Kirche nebenan und entzün-de vielleicht eine Kerze für einen geliebten Menschen. Der in der Kälte stehende Chor singt mit Andacht Weihnachtslieder. Hier können wir ein wenig stehen bleiben, ohne jede Ver-pflichtung. Geschäfte wird mit nahezu allem gemacht. Das können wir nicht än-dern. Aber wir haben die Möglichkeit zu entscheiden, ob wir uns daran beteiligen wollen oder nicht.“ Am Würstchenstand blieb Anne stehen: „Oh man, die riechen aber gut, oder? Darf ich Sie zu einer Bratwurst einladen? Paulina und ich freuen uns schon die ganze Zeit darauf.“ „Nein, bitte wenn sie gestatten, würde ich das gerne übernehmen.“ Während alle drei es sich gut schmecken ließen, brachte Anne ihre Gedanken zu Ende. „Unter Erwachsenen muss man sich zum 24. Dezember nichts Extravagantes schenken, oder? Eine kleine Aufmerksamkeit tut´s doch auch, wenn überhaupt. Und ist das Beisammensein, das sich Wohlfühlen in netter Gesellschaft mit Freunden und Bekannten nicht Geschenk ge-nug? Wie viele einsame Menschen erhoffen sich nichts sehnlicher als das?
Nach dem Wurstgenuss verabschiedete sich der ältere Herr ein wenig nachdenklich, und wünschte noch einen schönen Abend. Paulina schaute ihre Oma an und meinte: „Oma, der Mann guckte aber traurig, oder?“
Am Tage vor dem Heiligen Abend traf Anne den weißhaarigen Herren zufällig beim Einkaufen wieder.
„Ah, schön, dass wir uns vor dem Fest noch mal sehen“, begrüßte er sie gutgelaunt. Auch Anne war erfreut über das Zusammentreffen.
Man unterhielt sich vor der Kasse wartend zwischen Milchprodukten und Obst, zwischen Schokoladenweihnachtsmänner und Christstollen. Aus den Lautsprechern ertönten altherge-brachte Weihnachtslieder. Dabei erfuhr Anne, dass der Witwer den Heiligen Abend am Grab seiner Trude beginnen wird, um ihr eine Kerze zu entzünden. Anschließend will er mit seiner Enkelin durch die Stra-ßen ziehen, um die weihnachtlichen Lichter in Wohnungen und Gärten zu bestaunen. Danach gibt es bei seiner Tochter ein gemütliches Weihnachtsessen, von dem er nicht weiß, was es Leckeres geben wird. Zu späterer Stunde dann werden noch gute Freunde von ihr zu einer fröhlich, ungezwungenen Weihnachtsrunde vorbeikommen, und er wurde gebeten, dabei zu sein. „So habe ich das Fest noch nie verbracht. Und wissen sie was? Ich freue mich richtig da-rauf, es auf so neue Art zu begehen. Schade nur, dass meine Frau nicht mehr mitfeiern kann. Es würde ihr auch gefallen, da bin ich mir sicher. Leider sind wir nie auf die Idee gekommen, Weihnachten auch mal anders zu gestalten“.
Ach ja, gekauft hat er doch noch eine Kleinigkeit. Für die Enkelin. Er kann es kaum abwarten, bis sie das Geschenk während der Bescherung auspackt.
„Tja“, verabschiedete er sich von Anne, nachdem beide ihre Einkäufe bezahlt hatten, „Weih-nachten ist doch immer wieder für eine Überraschung gut. Vielen Dank für die Begleitung vor einigen Tagen. Ich wünsche ihnen, ihrer Familie und ganz besonders der süßen Paulina ein frohes Fest.“
„Und lassen sie es sich mit ihrer Enkelin und ihrer Tochter gut gehen“, entgegnete Anne dem Herrn.
Damit stapfte jeder für sich durch den Schnee nach Hause.
Immer noch schwebten die weißen Flocken ausgelassen vom Himmel.
Ja, Rüdiger, eine etwas verspätete Weihnachtsgeschichte, wo doch schon der Osterhase die Eier farbenprächtig bemalt.
Doch egal; man soll die Feste feiern, wie sie kommen!
Deine Geschichte, wenn auch kein Charles Dickens; muss ja auch nicht sein!, ist lesbar, und lässt sie, mit etwas Fantasie, vor dem geistigen Auge lebendig werden.
Weihnachtsmuffel und Weihnachtsenthusiastin! Wozu gehörst du?
Vielleicht fällt dir etwas bessereres ein wie Erst etwas zeitversetzt realisierte der Mann angesprochen worden zu sein. Dieser Satz stolziert!
Mit freundlichen Grüssen, (baroque -mande) Manfred Schröder
Der Weg zur Wahrheit ist mit Wahrscheinlichkeiten gepflastert. (baroque - mande)
danke für deine Mail. Ich hielt es bei dieser Geschichte etwas abgewandelt mit Sepp Herberger: Nach dem Fest ist vor dem Fest
Du lebst scheinbar in Finnland? Das brachte mich zum Schmunzeln, weil ich letztes Jahr mit dem Rad zum Nordkap und zurück fuhr. Dabei hielt ich mich z.T. auch in Finnland auf und radelte eine Weile entlang des Torne Älv. Wunderschön.
Hallo Rüdiger, ja, ich lebe in Finland, fast 60 Jahre, in Valkeakoski. Ein Mittelding zwischen Städtchen und grosses Dorf. Zurzeit, es taut der Schnee ab, so dass das Eiersuchen zu Ostern ein wenig wird leichter. Nun ja, man trifft sich vielleicht beim Schreibaustausch wieder.