Hier wuchs ich, im Randbereich einer großen Stadt, auf einer Pferdekoppel, die am Pfuhlgelände in Mariendorf liegt. Mariendorf, ein Stadtteil von Berlin, genannt die Hauptstadt von Deutschland.
Ich bin der Breitwegerich. Doch habe ich viele Namen, Plantago major, wissenschaftlich. Auch Mausöhrle, Saurüssel oder Rippenblatt nennt man mich. Ganz zu schweigen von den vielen Namen weiter weg: Broadleaf Plantain in England, Grand Plantain in Frankreich, Ratamo in Finnland, Подоро́жник большо́й in Russland oder オオバコ in Japan. Es gibt mich nämlich fast überall.
Breit – wege – rich. Ich bin breit, im Gegensatz zu meinem Namensvetter, dem Spitzwegerich. Ich stehe am Weg – wie mein Namensvetter auch. Wir sind verwandt, gehören zu den Wegerichgewächsen, den Plantaginaceae. Und ich bin der König. Das rich kommt vom rih aus dem Mittelhochdeutschen und bedeutet König. Ich bin der König der Wege.
Plantago entstammt Planta, lateinisch für Fußsohle. Die humanen Gelehrten streiten sich, ob der Name gewählt wurde, weil ich so breit bin wie eine Fußsohle und dieser von der Form her ähnele oder ob ich Heilkräfte für die Fußsohle in mir habe.
Woher ich das alles weiß? Geduld, davon später. Bleiben wir einfach erst einmal bei mir:
Ich bin trittfest, ich bin hartnäckig, zäh, ausdauernd. Man bekommt mich nicht so schnell kaputt – man will es auch gar nicht. Ich bin zu unauffällig, zu bedeutungslos, sogar hässlich. Auf feinem Rasen gehöre ich ausgerottet.
Man zählt mich zur Ruderalvegetation, zu den Pflanzen oder Kolleginnen, die zuerst auf brachliegenden Flächen, auf Abfallhalden oder Schutthaufen wachsen. Ich bin anspruchslos. Ich hole mir, was ich brauche, mit meinen fast einen Meter langen Wurzeln aus der Tiefe.
An mir ist nichts Schönes. Ich habe keine Farbe außer dem unscheinbaren Grün, dem bisschen Weißlich-Gelb der Blüten und Braun meiner Früchte. Die Blüten nimmt man (gemeint: der Mensch) kaum wahr, die Früchte erst recht nicht. Nur die Ähren an sich fallen auf, weil sie aus der Rosette meiner Blätter beinahe senkrecht in die Höhe sprießen.
Früher hat man mich geachtet, doch das tut man kaum noch. Dennoch, ich bin …
eine Trittpflanze, weil ich eben trittfest bin. Ich halte mich auf unbequemem Boden, an Wegen und auf Weiden. Tritte von Mensch und Vieh können mir nicht viel anhaben;
eine krautige Pflanze – ich verholze nicht, sondern treibe im Frühjahr neu aus, nachdem die oberirdischen Anteile im Winter abgestorben sind;
ein Hemikryptophyt – meine Überdauerungsknospen liegen an der Erdoberfläche, sie werden im Winter durch Laub und Schnee geschützt;
vorweiblich – meine weiblichen Fruchtblätter reifen vor den männlichen Staubbeuteln. Bekomme ich keine fremden Pollen ab, kann ich mich selbst befruchten;
ein Lichtkeimer – ich benötige zum Keimen neben Wasser, Wärme und Sauerstoff auch Licht;
ein Kältekeimer – mein Samen muss einmal Frost abbekommen, bevor er auskeimt;
ein Wind- und Tierstreuer – meine Samen oder Diasporen verbreitet sich durch Wind und Tiere, den Menschen eingeschlossen.
Ich habe
ein Rhizom – einen Wurzelstock, der überwintert. Es überwintert nicht nur das Wurzelwerk. Es überwintern im Rhizom all meine Gedanken, all mein Wissen, all unser Wissen – unsere Persönlichkeit;
klebrigen Samen – über Tierpfoten, Schuhe und Räder verbreite ich mich;
Zugwurzeln – ich kann meine Wurzeln zusammenziehen und damit das Rhizom tiefer in den Boden zerren. Das fördert meine Zähigkeit, meine Überlebensfähigkeit. Die Fasern in den Zellwänden verlaufen längs. Ich kann sie quellen lassen, den Turgor erhöhen. Der Turgor ist der Druck des Zellsafts auf die Zellwände. Steigt er, zieht sich die längliche Zelle zusammen, wird runder. Verringere ich den Turgor, dehnt sie sich aus. Diese Fähigkeit ist die Grundlage für meine spätere, umfassende Beweglichkeit.
Joe Gnos
Um wirklich glücklich zu sein, brauchst du nur etwas, wofür du dich begeistern kannst. Yehudi Menuhin
Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen. und jeder geht zufrieden aus dem Haus! Goethe
Guten Abend, Gnosje.
Ja, du hast viel gebracht und mich neugierig gemacht, ob dieser, auf deutsch mir unbekannten Pflanze und ich fleissig googelte und manche Erkenntnis gewonnen habe. Neugierig auch deshalb, ob es vielleicht ein Selbstportrait von dir sei! Da diese Pflanz wohl in der ganzen Welt bekannt ist, so möchte ich neben den von dir genannten Ländern auch die finnische Bezeichnung dieses bemerkenntswerthen Krautes, hinzufügen. Der Name ist ´Ratamo´!
Und dann noch beim lesen dieser mir ausgezeichneten Geschichte ein wenig Latein und Althochdeutsch gelernt! Was will ein Leser mehr!
Mit freundlich Grüssen baroque-mande (Manfred Schröder)
ps. Erst jetzt bemerke ich, das es schon eine nullnummer gab und einen ersten Teil. So wäre meine Antwort zur 2 wohl ein wenig anders ausgefallen.