Laut “Der Spiegel" haben sich die Anzahl der Morde in Venezuela zwischen 1998 und 2005 verdreifacht, was dem Land gemäss einer UNO-Studie den zweifelhaften Ruf der höchsten Mordrate weltweit einträgt. Das kann die folgende Erzählung etwas verständlicher machen.
Blut quillt unter dem weissen Haar meiner Mutter hervor, strömt ueber ihr Gesicht. Sie liegt gekrümmt auf dem Boden. Ich falle vor ihr auf die Knie. “Warum hast du mir nicht geholfen?” flüstert sie. “Mamma!” ächze ich. Ich erwache keuchend. Ich liege in einem Hotelbett in München. Morgen wird meine Mutter beerdigt.
Seehofer ist mein Name. Nomen est omen, sagt man. Wäre er Seehofen, mit der Silbe “von” davor, hätte mein Leben demnach anders verlaufen müssen. Als Nachfahre mittelalterlicher Wegelagerer hätte ich dann wahrscheinlich wie meine Ahnen von den Abgaben meiner Mitmenschen ein bequemes Leben geführt. Selbstredend wäre mein Charakter ebenfalls anders gewesen – bestimmt nobler. Auch hätte dieser Name besser zu meinem Vornamen gepasst. Hieronimus von Seehofen klingt wesentlich passender als Hieronimus Seehofer. Meine Eltern schwiegen schamhaft über die Motive, die sie dazu bewogen hatten, mich ausgerechnet auf den Namen Hieronimus taufen zu lassen? War ich, als ihr zweiter Spross, nach althergebrachtem bäuerlichen Brauch etwa zum geistlichen Würdenträger bestimmt? Als Kind wurde ich mit diesem Namen in Moosach ausgiebig gehänselt. Übrigens lernte ich hierdurch schon im zarten Knabenalter, dass Gewalt in der Praxis durchaus ein überzeugendes Argument sein kann, dächten darüber die Menschenrechtler wie sie wollten. In Deutschland nannten mich meine Freunde Hiero, aber hier in Venezuela rief man mich kurzerhand Gerónimo. Zwar war auch das kein Name für einen Ritter ohne Furcht und Tadel, aber immerhin hiess so ein berühmt-berüchtigter Apachenanführer. Meinen Beruf hatte ich an den Nagel gehängt und betrieb ein Hotel für Sporturlauber in der Nähe von Punta Arenas an der Küste des Golfs von Cariaco im Osten des Landes. Das Wort Hotel kann zu falschen Vorstellungen führen. “Gerónimo’s Jaidauay” war eine Herberge für Windsurfer. Jaidauay ist nicht etwa ein Wort der Cumanagoto Indiosprache sondern spanische Lautschrift für “Hideaway”. Surfer ermöglichten mir mein Leben ohne finanzielle Schwierigkeiten zu fristen. Surfer, die ihre Tätigkeit nicht ausschliesslich auf den Wellen der Ozeane ausübten, sondern solche, die sowohl im Internet als auch im Wasser zuhause waren. Meine Herberge warb im Internet und meine Kunden kamen fast alle aus Nordamerika und Europa, was dem Laden ein multinationales Flair gab und den wenigen einheimischen Gästen den Eindruck vermittelte sie wären im Ausland. Auch hatte sich hier schon manche Mischehe angebahnt, leider war aber auch manche ziemlichem Stress ausgesetzt worden, weil die Herberge mit ihrer gut bestückten Bar und schmackhaften Tapas ein beliebtes Wochenendausflugsziel vieler dunkler Schönheiten und karibischer Machos aus näherer und weiterer Umgebung war. Sie kamen meistens per Boot aus Cumaná, einer Stadt, die gegenüber auf der anderen Seite des Golfs liegt. Mit dem Auto brauchte man fast einen Tag dorthin, da man auf kaum befahrbaren Schotterstrassen zuerst bis zum Ende der Halbinsel Araya kutschieren musste um dann auf der anderen Seite des Golfs auf der belebten Hauptverkehrsader wieder zurückzufahren. Im Boot war es eine halbe Stunde, in der Fähre eine knappe Stunde.
Das Klima auf der Halbinsel ist keineswegs paradiesisch. Es gibt keine Bäume, fast keinen Strauch und keinen Schatten. So extrem sind die Temperaturen, dass die Spanier nur nachts arbeiteten, als sie vor fast vierhundert Jahren hier eine Festung gebaut hatten, um ihre Salzproduktion vor den räuberischen Inkursionen der Holländer zu schützen. Der Bau dauerte sieben Jahre. Übrigens zerstörte hundertvierzig Jahre später ein Hurrikan die Salinen. Die Festung verlor dadurch ihren strategischen Wert und sollte gesprengt werden. Das ganze, damals im Virreinato verfügbare, Pulver reichte dazu nicht aus. Die Ruine der riesigen Festung ragt heute noch drohend in den ewig blauen Himmel. Ich war im Urlaub. Und woanders kann jemand, der am Strand sein Geld verdient, seinen Urlaub verbringen, als in der Stadt. Deshalb war ich in Caracas. Gerade war ich von meinem täglichen Ausflug in die Cordillera zurückgekommen und hatte auch schon, wenngleich mit Widerwillen, ein paar Serien Gewichtstraining absolviert. Ich lag geduscht auf dem Bett in meinem Miniaturappartment, fernschaltete von Kanal zu Kanal und blieb wegen des Fehlens einer besseren Alternative immer wieder bei den CNN Nachrichten. Es fiel mir nicht leicht es zuzugeben; es war mir langweilig. Ich griff nach der Zeitung. 41 Tote am Wochenende In der Nacht von Freitag auf Samstag wurden 41 gewaltsame Todesfälle im Bezirk von Caracas registriert. Laut Ivan Troconis, Kommisar der Mordkomision, waren 8 Tote am Freitag das Ergebnis von Feuergefechten mit Polizeibeamten. In der Nacht zum Samstag gab es 21 Tote als Folge von “Ajustes de Cuenta”-Vergeltungsaktionen- …….. Der Kommisar schrieb den deutlichen Anstieg der Todesfälle im Vergleich zum vorhergehenden Wochenende der Tatsache zu, dass es Monatsende war und in Folge der Lohnzahlungen “Geld auf der Strasse” war. Wenn es Geld gibt, werden Alkohol und Drogen konsumiert, was zur Erhöhung der Kriminalität beiträgt, so Troconis…... Bei uns kamen in einer Nacht mehr Menschen ums Leben, als im Balkankrieg in einem Monat. Das Telefon summte, eine willkommene Überraschung. Wer konnte das sein? “Hallo”, sagte ich erwartungsvoll. “Hola, amigo Gerónimo”, klang eine weibliche Stimme blechern aus der Hörmuschel. “Elvia, corazón, ist das nicht etwas früh für dich? Es ist doch erst halbzwölf .” “Gehässiger Kerl, ich bin schon vor einer Stunde aufgestanden und ausserdem stehe ich die ganze Woche um sechs Uhr auf, während du bis acht pennst.” “Cariño, werde nicht böse, ich sage doch nur was allgemein bekannt ist.” “Echt Mann, immer auf Gerüchte hören und hinter dem Rücken der anderen tuscheln.” “Dass du mich für einen echten Mann hältst, ist ja selbstverständlich, aber es verletzt mich, wenn du behauptest ich würde hinter dem Rücken meiner Mitmenschen tuscheln.” “Das mit dem echten Mann war gar nicht so ernst gemeint.” “Mein Schatz, du begibst dich auf schlüpfrigen Boden. Wir können die Sache über meine Männlichkeit vielleicht bei mir diskutieren. Ich liege sowieso noch im Bett.” “Oh Graus, du wagst es mir derartige Andeutungen zu machen.” “Was heisst hier Andeutungen. Habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt?” “Ich ziehe vor nichts verstanden zu haben.” “Das beleidigt mich.” “Oh Gott, bitte nicht. Mein zartes Gemüt leidet es nicht einen Freund gekränkt zu haben.” “Du kannst es ja wieder gut machen.” “Wie denn?” “Lade mich zum Mittagessen ein.” “Materialist!”. “Was hattest du denn erwartet?” “Was kann man denn von dir schon anderes erwarten, entweder Bett oder Essen.” “Und du wolltest natürlich ins Bett?” “Genug. Wir treffen uns um 1 Uhr im “Bodegón de la Castellana”. “Es freut mich, dass dich meine Meinung über den Ort unseres Treffens so interessiert.” “Darfst du im Bodegón nicht gesehen werden? Hast du Schulden dort, oder ist gar der Bartender in dich verliebt?” “Deine Überlegungen sind angemessen für deine Gedankenwelt, jedoch unvereinbar mit meiner Persönlichkeit. Ich wollte nur gefragt werden “ “Da sieh mal einer an, ich zahle das Essen, du kommst in den Genuss meiner Gesellschaft, ich habe sogar noch eine Überraschung für dich und du stösst dich an Kleinigkeiten. Aber du sollst deinen Willen haben. Was schlägst du vor?” “Ja, wenn du mich fragst, ich würde sagen wir essen im Bodegón.” “Darauf wäre ich nie gekommen. Also bis um eins.” “Halt, wie war das mit der Überraschung?” “Kindskopf, wenn ich dir das jetzt sage, dann ist es doch keine Überraschung mehr.” “Mensch, Elvia, sei nicht grausam! Du kannst mich doch nicht so auf die Folter spannen.” “Okay, wenn du es unbedingt wissen willst, ich wollte dir eine Klientin zubringen.” “Wie das?” fragte ich misstrauisch. “Das Mädchen ist eine Freundin von mir und du sollst ihr einen Spezialpreis geben.” “Elvia, habe ich dir nicht erklärt, dass Preisermässigungen weiblichen Gästen im Jaidauay nur gemäss ihren Körpermassen gewährt werden.” “Diesen Rabatt will meine Freundin nicht beanspruchen. Sonst müsstest am Ende noch du bezahlen." "Keine Angst, amiga Elvia, ich bezahle nie. Selbst wenn die Dame nicht nur im Hotel, sondern sogar mit mir schlafen würde." Ich kannte Elvia seit Jahren. Wir hatten zusammen bei Petroleos de Venezuela gearbeitet und waren immer in Verbindung geblieben. Sie war ein lieber Kerl, eine treue Seele, immer zu jedem Streich bereit, nie langweilig, keine schlechte Figur und eine fantastische Tänzerin. Sie hatte nur drei Fehler. Sie rauchte wie ein Schlot, hatte eine blecherne, knarrende Stimme und eine grosse Ähnlichkeit mit Lilly Monster.
Hallo Onivido das macht Appetit auf mehr. Ich mag den Aufbau des Textes. Zuerst der nüchterne Text über die vielen Morde, dann der üble Traum des Protagonisten und das Erwachen in München. Dann der Teil in dem der Protagonist erklärt wird und dann das Telefonat - von dem man zuerst nicht weiss - wohin es führen wird und es ist daher auch sehr realistisch und dämpft den Spannungsbogen ein wenig, der dann durch die Ankündigung der neuen Klientin natürlich zum Ende des Textes wieder nach oben ansteigt, zumal das Restaurant wohl auch eine etwas prägnantere Rolle spielen kann. Es erinnert bis dahin stilistisch etwas an den tollen Mystery-Flair der Episoden in der Fernsehserie 'Lost' und es ermutigt mich, vielleicht doch einmal eine Mystery Story zu Latop zu bringen.
Hallo Tessy, danke fuer den Kommentar. Die Erzaehlung plaetschert so dahin und gibt einen ganz kleinen Einblick in den Alltag Venezuelas, vor 10 Jahren. Wenn sie spannend waere, waere das als Hintergrund gar nicht so uebel. Leider bringe ich das mit der Spannung nicht hin. Im Wartezimmer eines Zahnarzts wuerde sie vielleicht gelesen werden. Ich stelle aber dennoch ein paar Seiten mehr ein. Vielleicht ist es jemanden sehr langweilig. Gruss///Onivido
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08.09.2015 14:49 (zuletzt bearbeitet: 08.09.2015 16:14)
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