Literaturforum - Kurzgeschichten, Erzählungen, Romane, Gedichte - Bücher und eBooks

In der Spätnachmittagssonne sass ich wieder auf einem Steindeich. Wieder blickte ich hinaus aufs Meer, nach Norden in Richtung Heimat und sinnierte. Zuerst hatte ich Maria und meine Familie verraten und jetzt auch noch meinen Arbeitgeber und die Kollegen. Verglichen mit Judas schnitt ich schlecht ab. Jener war intelligent genug gewesen seinen vollen Lohn zu kassieren und hatte ausserdem den Mut besessen sich selbst das Leben zu nehmen.
Wie die Wellen, die stetig gegen den Deich anstürmten, so brandeten diese Gedanken in mein Bewusstsein. Wie die Krebse, die sich an die Felsbrocken geklammert dem Ansturm der Wellen widersetzten, so klammerte ich mich an alle möglichen Ausflüchte. Keiner überzeugte mich.
Eine Horde junger Leute vertrieb lärmend ein Pelikanpaar vom Deich und lenkte meine Gedanken wieder in praktischere Bahnen.
Wie sollte es weitergehen? Sollte ich ins Kloster flüchten? Für Saddam Hussein arbeiten? Gold suchen im Dschungel Guayanas? Sollte ich versuchen nach Deutschland zu gelangen und mich dort den Behörden stellen? Was erwartete mich in diesem Fall? Auslieferung an Venezuela? Eine erneute Verhandlung? Auf jeden Fall würde meine Familie von der Sensationspresse durch den Schmutz gezogen werden.
Und wozu? Mein Vertrauen auf die Findigkeit der Polizei und die Fairness der Justiz war gleich null.
Möglicher Weise war die Goldsuche eine reale Alternative. Aber ich hatte noch nie von einem Minero gehört, der reich geworden wäre. Mit dem Verkauf von Maismehl, Sardinen und Rum in einem Campamento de Mineros verdiente man wesentlich mehr als mit der Goldwäscherei. Aber dazu brauchte man ein kleines Flugzeug und obendrein eine Genehmigung und Freunde in der Guardia Nacional und ich hatte nichts von alldem.
Ich packte meine spärlichen Habseligkeiten und kehrte nach Caracas zurück, zur Fuente de Soda El Limoncito. Am Abend wusste ich wo Yesaida, Emiros Konkubine, hauste. Carapita ist ein wüster Slum im Westen der Stadt. Wie viele Bewohner des Ostens kannte ich mich im Westen nicht aus, fand aber meinen Weg zu Fuss von der U-Bahnstation „Carapita “ zum Barrio Carapita. Ein Gewimmel von Menschen und vergammelten Jeeps am Anfang einer steil nach oben kletternden Strasse zeigte mir, dass ich am Ziel war.
“Mi pana, wie komme ich zur Vereda Guevara?” fragte ich einen jungen Mann.
Der musterte mich, kam vermutlich zur Überzeugung, dass ich ein verzweifelter Drogenkonsument war, deshalb wahrscheinlich Zaster bei mir hatte und somit ein geeignetes Objekt für einen Überfall darstellte. Sicherlich würde er jemanden einen Wink geben, der mir – bestimmt in der löblichen Absicht mich vom Drogenkonsum abzuhalten- einen Pistolenlauf in den Unterleib pressen würde um mir meine Schärflein abzunehmen.
Ob seine Auskunft richtig war, oder mich direkt in eine Diebeshöhle führte, wusste ich nicht. Deshalb fragte ich ein paar Schritte weiter eine ältere Frau. Sie überlegte eine Weile und schickte mich dann wenigstens in dieselbe Richtung. Unerwarteter Weise fand ich die Vereda ohne Schwierigkeiten, aber als ich nach Yesaida, der Frau von Emiro fragte, erschienen zwei Gestalten, die mich augenblicklich an meinen Zuchthausaufenthalt erinnerten.
“Que es lo tuyo - was willst du-, gringo?”
“Socio”, wandte ich mich an einen von ihnen, “wo finde ich Yesaida die Jeva von Emiro?”
“Pa‘ que -wozu?”
“Wegen eines Geschäfts.”
“Dejenlo pasar – lasst ihn herein”, schrillte eine Stimme aus dem Inneren der Behausung vor der wir standen. Sekunden später begrüsste mich Yesaida, eine wandelnde Todsünde. Bei einem Besuch im Knast hatte Emiro sie mir prahlend vorgestellt und dann gleichzeitig darauf hingewiesen, dass er jedem, der sie auch nur zu lange ansähe den Leib aufschlitzen lassen würde. Eingedenk dieser Tatsache sprach ich unverzüglich über den Grund meines Besuchs. Ich bot an Raubkopien von Computerprogrammen, Videokassetten und CDs herzustellen. Sie sollte den Verkauf durch Buhoneros - Strassenverkäufer, übernehmen.
Nach einer guten Stunde und ein paar Gläsern Rum hatten wir uns geeinigt. Yesaida besorgte mir auch gleich eine Kammer für mein Labor in einem Rancho hundert Meter weiter oben am Abhang. Die Bewohner des Ranchos, Grossmutter, Mutter, der derzeitige Mann und eine Kinderschar überlebten Dank einer Reihe von mehr oder weniger sporadischen Einahmequellen. Sie vermieteten die fensterlose, stickige Kammer- mein Labor-, Rixio, der Mann, war Gelegenheitsarbeiter, mit immer spärlicheren Gelegenheiten, Yolanda die Frau, ging dreimal in der Woche putzen für einen Hungerlohn. Jacinta, die Grossmutter und Eigentümmerin des Ranchos, verkaufte Bier und Rum und bezog Kokain von Yesaida, welches von den Kindern an die Konsumenten geliefert wurde.
Gleich in den ersten Tagen kam ich in den Genuss eines Kugelwechsels zwischen rivalisierenden Banden. Vorsichtshalber ging ich hinter dem verrosteten riesigen Kühlschrank in Deckung. Grossmutter und Mutter pressten sich an mich, die Kinder schlüpften unter den Computertisch. Kein Wunder, dass Yesaida darauf bestand in meine Laborausrüstung auch eine Schrotflinte und eine Pistole aufzunehmen. Beide gehörten Emiro, aber der konnte sie ja zur Zeit nicht gebrauchen, er hatte im Gefängnis eine Browning von einem Guardia Nacional erstanden. Überhaupt überhäufte sie mich mit Aufmerksamkeiten. Offenbar nahm sie die Drohung Emiros nicht ganz ernst, oder es war ihr wenig an meinem Weiterleben gelegen.
Nur wenn ich bis nach Einbruch der Dunkelheit arbeitete schlief ich in einer Hängematte im „Labor“ in Carapita. Sonst verbrachte ich die Nächte nicht immer allein in einer billigen Pension in Montalban. Manchmal kam die Polizei nach Carapita und stellte wahllos sämtliche Passanten mit erhobenen Händen gegen die Hauswände, kontrollierten die Ausweise, durchsuchten die Ranchos und deren Einwohner nach Waffen und Drogen. Schon nach den ersten Wochen plante ich das Labor in die Pension nach Montalban zu verlegen, verschob den Umzug aber immer wieder, weil man mir eine Menge Material zum Verkauf brachte das beim Zoll im Hafen und auf dem Flugplatz gestohlen worden war.
Pelo’e Rata war es der mich warnte. Razzia .
“Wann genau wissen wir nicht. Aber bestimmt sehr bald.”
Ich brachte fast mein ganzes Labormaterial zu Yesaida. Ihre Behausung würde nicht so genau untersucht werden. Sie bezahlte schliesslich dafür.
Dann nahm ich einen Bus zur Küste, wo ich mir einen Kurzurlaub im Hotel Sheraton zu genehmigen dachte, weg vom täglichen Elend und dem irren Vegetieren in Carapita. Dort traf ich den Comandante. Elegant, aber unauffällig gekleidet, in Begleitung einer wohl dotierten, offenbar teueren Dame, zeigte er keine Überraschung. Im Vorbeigehen grüsste er salopp und äusserte den Wunsch mich um fünf Uhr nachmittags an der Bar zu treffen. Ob es mir passen würde.
“ Freilich bestens! “erwiderte ich euphorisch.
“Está bien entonces! Hasta la tarde!”


Nach einigem Überlegen kam ich zu dem Schluss, dass Obdulio Ortega mich kaum verraten würde, nicht etwa aus Loyalität, sondern weil niemand etwas dafür bezahlte. Anders war die Lage für ihn. Verrat an ihm könnte mir Straferlass einbringen. Zumindest könnte ich mir das einbilden und in Versuchung geraten. Auch El Comandante konnte zu diesem Schluss kommen und würde bestimmt vorbeugen.Vielleicht ein nächtlicher Besuch in meinem Zimmer? Ein Kopfschuss durch ein Kissen?
Da Vorsicht bekanntlich besser ist als Nachsicht, verliess ich das Hotel unverzüglich, fuhr in einem Taxi zum Flughafen, von wo ich in einem anderen wieder fast die ganze Strecke zurückfuhr um mich im Conde einzumieten- einem weitaus unauffälligerem Hotel.
Pünktlich um fünf setzte ich mich auf einen Hocker, der um diese Zeit spärlich besuchten Bar des Sheratons. Wachsam und unruhig wartete ich auf den Comandante. Natürlich kam er nicht. Statt dessen drückte sich eine Dame auf den Hocker neben mir. Sie bestellte ohne grosse Eile einen Gin Fizz und sah geringschätzig auf mein Bier. Offensichtlig hatte sie augenblicklich meine finanzielle Lage überschlagen und war zu einem mageren Ergebnis gelangt. Als ich endlich meine Augen von ihrem herausforderden Unterleib abwandte und einen flüchtigen Blick auf ihr Gesicht riskierte, erkannte ich in der Dame die Freundin des Comandanten.
“Hola, warten Sie auch auf jemanden?” fragte ich unschuldig.
“Ich nicht, aber für Sie wäre es besser Sie würden einen Spaziergang zum Yachthafen machen.”
Sprachs und wandte sich ab.
Ich seufzte und bezahlte den ungläubig grinsenden Barman. Verständlich sein Grinsen, nur ein Marico, – ein Schwuler, - konnte das Feld räumen gerade im Moment, als sich so ein Leckerbissen an seine Seite gesetzt hatte.
Über seine Gedanken schmunzelnd schlenderte ich zum Eingang des Yachthafens. Bevor ich ihn erreichte, stoppte neben mir ein nagelneuer Mitsubishi Eclipse mit abgedunkelten Scheiben. Die Beifahrertür öffnete sich. Ich stieg ein.
“Alles ok?” fragte der Comandante der höchstpersönlich hinter dem Steuer sass.
“Más o menos – mehr oder weniger”
Wir fuhren Richtung La Guaira und setzten uns in Macuto in ein Restaurant auf der Strandseite der Fahrbahn direkt gegenüber einer Polizeistation.
Bei einer Flasche Whisky mit Eis plauderten wir über die Fussballweltmeisterschaft, die Umweltverschmutzung, Politik, Krieg und Terrorismus.

Hi Onivido
Die Episode endet so schön entspannt, dass man eigentlich nur darauf wartet, dass in der nächsten Episode der Spannungsbogen wieder gespannt wird.
Mit gefällt auch Dein Schreibstil mit der sehr schönen Kommentierung des Geschehens durch den Protagonisten in der Vergangenheitsform und den sprachlichen Kunststückchen.

Nun frag nicht wieder, ob ich noch weiterlesen möchte. Die Antowrt ist 'Jaaaa....'!

Gruß,
Tessy