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Befinden tut es sich genau da, wo es hingehört, das Industriegelände - hinter dem Bahnhof Erfurt-Nord. Zu erreichen ist alles noch zu Fuß. Wozu einer befähigt, sieht man keinem an; hier sind Arbeiter unterwegs. Die ersten an diesem Morgen müssen von Pels, Henry Pels & Co., sein und die da hinten auch. Ein Stück weiter noch eine größere Gruppe. Mehr braucht man nicht zu wissen bei dieser Maschinenfabrik, einer wichtigen, vielleicht sogar kriegswichtigen. Davon ist auszugehen angesichts der Zwangsarbeiterbaracken. Hier wird alles weiterlaufen können wie gehabt; muss eben orderntlich geregelt sein. Am Arbeitsplatz die einen wie die anderen, allein mit ihren Gedanken und der Sorge um die verbleibende Kraft. Wer wollte da einem Nächsten noch zu nahe treten.
Über der Straße von der Stadt weg und wieder zurück hing der Himmel bisweilen tief, so tief, dass er zu Worten verleitete, die aber wie gekommen, sich auch wieder verloren. Als dann Schluss mit dem einen Staat und im anderen mit den Überresten weitergemacht werden musste, hing der Himmel auch wieder tief, so, dass der Asphalt etwas aufsteigen ließ, das an die unsicheren Schritte derer erinnerte, die mit ihrem Kauderwelsch und dem Abzeichen Ost hier gelegentlich unterwegs gewesen waren. Komisch, sagte sich so manch einer, es ist doch so als könne nichts weiter als das zurückführen in jene Zeit; oder kam es daher, dass jetzt so viel darüber geschrieben wurde, vor allem mit diesen ganzen Einzelheiten. Man selbst hatte ja nicht mal deren richtige Namen gewusst, und unterscheiden tat einen von diesen Hungerleidern inzwischen kaum noch etwas.

Und während die sich da, wo sie herkamen, nun wohl auch erst wieder mühsam zurechtfinden mussten, war Platz gemacht worden für andere, die sich fremd und abweisen direkt unter ihnen abhoben. Wie lausig denen alles vorkam, brauchte keiner erst zu schreiben. Man sah es ihnen an. Nicht das allerschlechteste war da manchmal ein kurzes Handgemenge. Auseinander ging man wenigstens um eins reicher: die Visage hatte jetzt einen Namen - so wie bei Jandt, dem Walther, der weiter musste zum VEB Holzbau.
Schon interessant, wie der argwöhnisch sein Platt zu überspielen versuchte. Ein paar unwillkürliche Worte mussten dem vorkommen wie Perlen, die er gerade vor die Säue geschmissen hatte. Die ließen dann aber auch etwas durchscheinen von seinem alten Werk, den Kumpels. Tja, Pech für ihn! Ins Schweigen hinein stahl sich mitunter der Wind. Der blieb sich ja nun wohl überall gleich, oder. Doch halt! War da nicht eben eine frische Brise wie von der Ostsee? Unglaublich! Tja, damit konnte man nicht aufwarten am Rande des Mittelgebirges.

Und! Mit dem Leben davongekommen sein, war das etwa nichts? Eben! Jetzt, wo er der Schwester seiner Frau Dank schuldete dafür, dass sie sich mehr als die anderen Geschwister um sie geängstigt hatte, wollten ihm solche Parolen wie Kampf bis zum letzten Blutstropfen nicht mehr aus dem Kopf. Und so gesehen waren die, die auf der Flucht das Leben hatten lassen müssen, nicht mal schlecht dran.
Jetzt nämlich, wo der Ehemann zurück aus der Gefangenschaft in einer - seiner - kommunistischen Ostzone, hätte sie davon nichts mehr tun können und es auch schon gar nicht mehr gewollt. Dank nur noch peinlich.
Zu Familienfeiern lud sie aber weiterhin ein, und wie es aussah, nicht gönnerhaft. Wie Bonzen wohnten die beileibe nicht. Dafür waren Kaffee und Kuchen wie immer ein Gedicht; ein bisschen wie in Friedenszeiten. Friedenszeiten! Ja, warum auch nicht. Brachte man doch die Tochter mit und die Mann und Kind. Auf der anderen Seite des Tisches zwei Töchter.
Denen wollte anfangs gar nicht in den Kopf, warum drinnen in der Stadt die Konditoreien so überlaufen waren, und noch dazu von Frauen, ausschließlich Frauen. Die konnten doch sicher auch noch gut backen. Was hatte es denn auf sich mit dieser Buttercremetorte, die man sich schon weidlich einverleibt hatte und wo wieder noch ein Stück hinein musste. Kamen die nicht heraus aus der Nachkriegszeit? Würde es für sie immer eine bleiben? Stimmte ja irgendwie. In der Klasse waren auch so einige ohne Vater. In Margits Familie lehnte der als Soldat Bechstein noch immer mit Kopfschuss an einem Baum.
Da hielten sich die vorhandenen Männer lieber an Friedenszeiten, hätten anders auch gar damit fertig werden können. Womit konnten sie denn überhaupt fertig noch werden? Mit den beiden Systemen und ihren Verheißungen? Oder mussten sie sich da einfach hineinsteigern, in einer Weise als hinge der ganze Westen, der ganze Osten von ihren armseligen Parolen ab. Oder ging es im Grunde nur darum, Zeit zu schinden - bis zu dem Moment, wo es endlich herausbrechen sollte: "Na, dann geh doch rüber!" Worauf die brennend heiße Hand schon ewig gewartet zu haben schien. Während sie sich verdutzt die Wange hielt, noch der Ansatz der Frage, ob sie etwas falsch gemacht habe. Da kamen aber auch schon die Tränen.

Was maßte sich die ältere Tochter da noch an, seinen Weg zu kreuzen, an einem Ort, wo er halbwegs heimisch; bei seinem Holz und dessen vertrautem Geruch, der beinahe schwerer wog als das bisschen Monatslohn. Allein war sie natürlich nicht darauf gekommen. An die dreißig Oberschülerinnen schwirrten an solch einem sogenannten Tag in der Produktion im Betrieb rum, und die sollten dabei nutzbringend beschäftigt werden, woran indes keinem gelegen, weder den alten Arbeitern noch den jungen Hüpfern. Zwei Welten, die sich gegenseitig nur durcheinanderbrachten. Bloß früh am Morgen, wenn sie eintrudelten, nach ungewöhnlich langem Fußmarsch, jeder Witterung ausgesetzt und die düstere Industrielandschaft als Horizont, dann wirkten sie plötzlich ganz verloren und fremd. Die neuen Ostarbeiterinnen etwas!
An solchen Tagen war denen, die schon ewig unterwegs auf dieser Straße, ein bisschen so, als liefen Gestalten neben ihnen her, die einen auf der linken, die anderen auf der rechten Seite. Wenn dann die verarbeiteteten Hände die Arbeit aufnahmen, hat sich so manch einer wohl mal wieder sagen müssen: "Was stellen die da oben bloß immer an!"
Kam an einem solchen Tag die Kommunistentochter notgedrungen auf den zu, der eigentlich ihr Onkel war, brachte keiner ein paar belanglose Worte heraus, weil nichts belanglos war. Ein freundlicher Blick hätte vielleicht auch genügt, doch mit seinem, das wusste er nur zu gut, war auch nicht immer gut Kirschen essen; den konnte der ständige Unmut wegen der Verhältnisse und mehr noch die ihm eigene jähzornige Ader ganz schnell verdunkeln. Hingen sich aber ihre Augen an seine, sollten die stets klar bleiben, sie sehend als das, was sie war in dem Moment.