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An die Reise hatte die junge Frau im ersten Moment gar nicht gedacht, nur daran, dass wieder Hochzeit gefeiert werden sollte - die ihrer Schwester, zwei Jahre nach ihrer eigenen. Zu der käme auch diesmal wieder ganz Greifswald, sozusagen, und ohne sie ginge das überhaupt nicht. Ja, schon! Bloss, dass sie mittlerweile im Süden der Republik lebte und es bis zur Entbindung nicht mehr lange hin; die Bahnfahrt wenig angeraten. Im Arzthaus selbst wäre sie allerdings sicherer als anderswo, und wenn, käme das Kind immerhin in der allerbesten Stadt zur Welt. Jens-Uwes Eltern nähmen ja den gleichen Zug, und auf die war immer Verlass. Nur die Oma, die konnte man nicht noch mitschleppen und ausgerechnet die musste dann anfangen, eindringlich abzuraten von der Reise. Da sah man mal wieder wie Leute reagierten, wenn sie auf einen böse waren. Dass hier noch jemand etwas von einer weisen Frau an sich gehabt haben könnte, wäre ihr damals nie in den Sinn gekommen. Später, wenn sie sah wie diese Frau umging mit dem Kind, das im Brutkasten sein Augenlicht hatte lassen müssen, tauchte diese Vorstellung flüchtig auf. Ganz ohne großes Gewese verstand sie es, sich auf die tiefsten Bedürfnisse des Kindes einzustimmen. Erst nach der Geburt des zweiten Sohnes sollte eine Spur davon auf sie selber übergehen; die stummen und geäußerten Vorhaltungen der Preis. Die überlagerten ein aufkommendes Empfinden für das, was vor der Reise sichtbar gewesen sein musste für den, der es wissen und sagen wollte, einen, der mit den letzten Resten einer Realität, in der Mütter und weise Frauen sich verankert gefühlt haben mussten, noch etwas anzufangen wusste.
Nun, dem Jungen wenigstens würde man es an nichts fehlen lassen. In einer spezialisierten Einrichtung ließ sich eine Menge für ihn tun; zu berichten gab es dann zu Hause nicht weniger - eher so nebenbei. Ganz anders, wirkte es, wenn Jens-Uwes Vater dabei war. Der hörte so gebannt zu als sähe er sich selbst dort. War die ständige Betroffenheit nicht ein bisschen übertrieben? Dass da ein altes Augenleiden und eine unvermeidliche Operation mit hineinspielten, mussste doch nicht unbedingt hervorgehoben werden. Obwohl! Bis zum Brutkasten war es so weit nicht hin. Einer solchen Schwäche konnte vielleicht keine Einstellung gerecht werden. Also doch nicht nur die Schuld der Klinik. Doch wozu noch die müßigen Fragen. Da war ein zweiter Sohn - völlig gesund. Keine Reise, kein Zureden - nichts hatte man noch einmal falsch gemacht. Nun war es gut. Das konnte einleuchtender nicht sein. Der Schatten stellte sich einzig und allein mit der Uroma ein.

Jens-Uwes Eltern waren ja nicht dumm. Sie wussten ganz genau, dass ein ehemaliger Funkwerk-Ingenieur mit Genossenschaftswohnung und Datsche auf Kirchenland gerade mal so durchging, und sie wussten auch, dass sie dabei waren, dieses Bisschen zu verscherzen, wenn sie das nicht bald abstellten. Dieses ganze Gewese um eine alte Frau, das musste doch nun wirklich nicht sein, oder? Der Junge käme ja auch weiterhin für ein paar Tage zu ihnen, wenn eine Fahrt nach Greifswald ging. Ja eben! Und da hätten sie sie mal sehen sollen, die Oma. Zu allen Bekannten und Verwandten hatte sie ihn schon geschleppt. Die Zeiten, in denen die Leute mit einer gewissen Scheu einen ersten Blick in den Kinderwagen der jungen Mutter taten, waren eigentlich vorbei, und die, in denen man dem Vater mit dem Kind an der Hand glaubhaft versicherte, dass das Kind ganz nach ihm käme, nicht minder; jetzt aber schien es doch so manch einem, dass diese erste liebevolle Hinwendung das war, was hier nachgeholt werden musste, und dass ein Kind, das ganz nach dem einen oder anderen kam, ein bisschen mehr dazu gehörte. Sie alle hatten ihn nun gesehen, mit ihren Augen, und aus der Welt seiner Uroma wäre er fortan nicht mehr wegzudenken. Man selbst hielt vielleicht nicht mehr viel von dieser Welt, doch besser war es schon, das zu tun, was einen hier gut dastehen ließ.
Wie bitte sollte das dann abgestellt werden und noch dazu von welchen, nach denen es überhaupt nicht ging. Lauter Spinnereien mussten dabei rauskommen, und so als wollten sich nun auch noch die verhassten Kommunisten lieb Kind machen, der Gedanke an die Mauer. Eine, die sie selber gerade noch durchließe - zu den Kindern, nicht so die Alten, Unnützen. Und kaum dachte man an diese Leute, liefen sie einem auch schon über den Weg - so wie Tante Friedel am Arm ihrer Tochter. Ein liebes Mädchen war das allerdings gewesen; sollte dann rausgekommen sein. Doch bloß nicht weiter darauf zurückkommen und erst recht nicht auf den Umgang der Familie damit - bei dem Vater. Ob der das so vielleicht gar nicht gewollt hatte? Was für eine Frage! War ja mal ganz was Neues. Doch halt! Waren die in der Zeit nicht welche gewesen, nach denen es ging? Auch was ganz Neues für solche. In diese Kategorie rückte man mit dem anständigen Wagen wohl noch lange nicht auf. Genauso wenig wie Tante Friedels Tochter mit ihrem entzückenden Blümchenkleid, dem man das westliche Ausland ansah und glaubte, das bewusste Schildchen darin ganz deutlich vor Augen zu haben. Der Wagen brachte ins Grüne, das Kleid wirkte im Datschengarten ungemein passend. Aber sonst!
Wenn dagegen Jens-Uwe sie, seine Eltern, zu einer Fahrt nach Österreich einlud, musste das als eine unübersehbare, geradezu unvorstellbare Aufwertung angesehen und entsprechend durchgezogen werden. Auch die Oma hatte das sofort begriffen und sich für sie gefreut. Sie verstand sogar, dass man das dann nicht einfach so erzählen konnte und dass sie sich deshalb zurückhaltender gaben als sonst. Vielleicht war sie ihnen aber auch nicht mehr gut genug als nicht Aufgewertete. Aber etwas musste noch vorgefallen sein. Bei so einer Reise war man ja viel länger und enger zusammen als bei einem Nachmittagsbesuch. Da nimmt man schon mehr wahr, und abends bei einer Flasche Wein bleibt es auch nicht unbedingt beim ganz Allgemeinen. Na ja, warum auch nicht! So erschrocken brauchten sie deswegen nicht gleich zu gucken. Bald würde man ja wieder zu den Kindern fahren und dann wäre alles wie immer. Das wäre aber nicht so bald, hiess es kurz - die wären jetzt im Urlaub und dann müsse man sehen. Es sei ja noch so lange hin.

War der Aufwertung nun nicht schon wieder alles genommen? Wer interessierte sich denn überhaupt noch dafür? Allerhöchstens Tante Friedel. Bei ihr ginge es mit dem Erzählen bestimmt besser. Die verstand die ganzen Feinheiten; da wusste man, woran man war. Wie sehr die doch auf sich hielt. Im Gegensatz zu ihrer Tochter! Völlig ungeniert hockte die doch am späten Vormittag, im alten Baumwollhemd, das nur noch von ihrem Vater sein konnte, auf der Liege rum. Diese ganzen alten Bücher neben ihr, die fehlten gerade noch. Und dann mit großen Augen zusehen wie das so ging, ein richtig gutes small talk. Als reines Wort sagte ihr das bestimmt mehr, worum es dabei aber wirklich ging, das brauchte einem keiner aus dem westlichen Ausland zu erzählen. Sowas hatte man in sich, oder eben auch nicht.
Na schön, Von einem Tag zum anderen würde man nicht abgehen vom bisherigen Entgegenkommen; wollte sie doch gerade an dem Wochenende zu ihrer Schwester fahren, und das war der gleiche Weg wie der zu ihren Kindern. Auf eine Fahrt mit der Reichsbahn legte sie ja wohl keinen gesteigerten Wert, oder? Was gab es da lange zu überlegen, ein Gesicht zu machen, als sei etwas ganz und gar Abwegiges an der Sache. Und dann rückte die damit raus, dass sie bei der Gelegenheit auch mal Guten Tag sagen könne bei den Kindern.
So waren sie schon lange nicht mehr zusammengezuckt - alle beide im gleichen Moment. Was war denn das? Da stimmte doch was nicht! Ach so, ja, das Ansinnen... Man brauchte nur zu sehen, was Tante Friedel für ein Gesicht machte. Für heute reichte es. Die war ja beinahe noch schlimmer als die Oma. Na, zumindest sagte die hier kein Wort weiter. Etwa weiser als die Oma? Dastehen tat sie im Moment jedenfalls wie eine ungezogene Göre.
Daran brauchte man sich fortan eigentlich nur zu halten, wenn anderweitig wieder so eine dumme Frage käme, eine, die verwirren, mitten im Satz abbrechen ließe. Es war also nicht mal übertrieben, wenn sie nun jedes Mal bei den Kindern sagen mussten, dass die Oma nicht mitkommen konnte. Es sei einfach nichts mehr mit ihr los, alles verwirre sich. Aber in dem Alter doch auch wieder ganz normal, oder.
So traurig es war, unhörbar wurde wohl aufgeatmet, nur dem blinden Jungen stockte der Atem. Da nahm schließlich der Greifswalder Opa den anderen Opa zur Seite. Schon die Schritte klangen anders. Sicher machten sie auch ein ganz anderes Gesicht als er selbst. Aber sie mussten sich schon gut verstehen, trotz des komischen Flüstertons.
"Wissen Sie, was ich mich immer wieder gefragt habe?", kam es von dem einen.
"Nein, meinen Sie, ob man mit einer frühzeitigeren Behandlung etwas hätte ändern können?"
"Nein, das nicht unbedingt! Eher ging es darum, was diese Frau eigentlich von uns wollte?"
Im gleichen Moment ging der Atem des Jungen wieder ruhig, regelmäßig. Ach so, das war es. Schwer zu verstehen - aber wenigstens nicht irgendeine Oma.