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Bei Tschernobyl brennen die Wälder. Erinnerungen an die Katastrophe 1986 tauchen auf. Ob kontaminierte Asche sich ausbreitet wird befürchtet und bestritten. Für mich ist Tschernobyl auf eigentümliche Weise mit den Begriffen Uschgorod und Tscherleniak verknüpft. Wieso und weshalb, davon soll dieses Essay handeln.

Es war kurz nach der Wende, es war fünf Jahre nach Tschernobyl. In einer medizinischen Zeitschrift las ich einen Artikel von dem ukrainischen Arzt Wasilij Tscherleniak, der in Deutschland um Spenden gebrauchter medizinischer Geräte für Uschgorod bat. Das ist eine ukrainische Universitätsstadt an der slowakischen Grenze. Dort kamen auch nach Jahren immer wieder Strahlungsopfer aus Tschernobyl zur Behandlung, trotz 800 km Entfernung. Und es fehlten Geräte.

In der Praxis hatte ich ein altes Sonografiegerät stehen, das ich nicht mehr benutzte. Ich nahm Kontakt zu Dr. Tscherleniak auf und bot es ihm an. Die Frage des Transportes gestaltete sich schwierig, und nach kurzem Überlegen und aus einer gewissen Abenteuerlust bot ich an, es selbst hinzubringen.

Das Visum bekam ich einigermaßen reibungslos über die russische Botschaft, obwohl die Ukraine schon selbstständig war.

Das Sonogerät wurde in meinen Opel Kadett Kombi geschafft und der freie Platz mit Medikamentenmustern vollgestopft. Dann ging es los, die lange Fahrt von Berlin über Österreich und die Tschechoslowakei bis Uschgorod. Ich übernachtete einmal, genau an meinem Geburtstag im November. Unterwegs hörte ich in einem tschechischen Sender eine Sendung in Deutsch, in der diskutiert wurde, ob sich die Tschechei von der Slowakei trennen soll. Spinner gibt es überall, dachte ich bei mir, das wäre doch völlig hirnrissig. Und wenig später war es so weit.

An der ukrainischen Grenze wurde ich nach Geld gefragt. Wahrheitsgemäß gab ich auch an, dass ich tschechische Kronen dabei hätte. Die durfte ich nicht einführen, DM schon. Ich sollte zurückfahren und sie im nächsten Ort auf einer Bank deponieren. Es war gegen acht Uhr, Banken wären noch lange geschlossen und ich hatte keine Lust auf Bürokratie. So fuhr ich zu einem nahen Wald, fand eine Plastiktüte, stopfte das Geld hinein und versteckte es in einem Busch. »Wald« und »verstecken« schrieb ich auf Kyrillisch aus meinem Reisewörterbuch ab. Dem Zöllner zeigte ich den Zettel und deutete auf den Wald. Das akzeptierte er. Sonogerät und Medikamente waren überhaupt kein Problem.

Ich quartierte mich im Zakarpat Hotel Uschgorod ein und suchte den Bruder des Dr. Tscherleniak auf. Die Familie nahm mich auf wie einen alten Freund. Ich bekam viele Informationen und lernte ukrainisches Leben »von innen« kennen, auch das Essen. Eine Suppe hieß Borschtsch, sah aus wie Blut, bestand aber überwiegend aus Roter Beete.

Er war Physiker an der Uni und verdiente weniger als eine Marktfrau. Sie war Lehrerin, verdiente noch weniger. Einen Sohn hatten sie, er war damals circa zwölf Jahre alt und ging in eine englische Schule mit Englisch als Unterrichtssprache. Später lernte ich die Englisch-Lehrerin kennen. Ich war der erste Mensch, mit dem sie »richtig« englisch sprach, also eine Unterhaltung führte. Dabei war ich weder Engländer noch Amerikaner.

Ich durchstreifte mit dem Sohn die Stadt. Er zeigte mir alles, ich machte Fotos. Ein neues Theater war sein Stolz. Ich fotografierte auch heruntergekommene Häuser. Das mochte er nicht.

Wir gingen einen Trainingsanzug für den Sohn kaufen in einen Laden, an dem irgendetwas von »Sport« (спорт) stand. Drinnen waren in einem riesigen Raum aber nur Auto-Ersatzteile zu sehen. Der Vater fragte nach dem Trainingsanzug. Tatsächlich zog der Verkäufer unter dem Ladentisch Trainingsanzüge hervor. Es gab eine einzige Sorte, nichts auszusuchen. Nur die Größe wurde angepasst.

Die Tscherleniaks wohnten in einem Häuserkomplex umgeben von Lehmboden, Schlaglöchern und Pfützen. Das Treppenhaus war unverputzt, schäbig. Hinter der Wohnungstür sah alles anders aus, eine andere Welt: ein wunderschönes, gemütliches Heim. Ich sollte dort übernachten, lehnte das aber ab mit dem Hinweis auf mein bezahltes Hotel.

An die Abgabe des Sonogeräts kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Es wurde jedenfalls gerne angenommen, auch die Medikamente. Wir besichtigen einige Krankenhäuser. Alles war spartanisch eingerichtet, auch die Uniklinik; lange Flure wie wohl in jedem Krankenhaus der Welt. Immer wieder gab es Wartezeiten. Ich konnte die nutzen, um Schilder durchzubuchstabieren, bekam Wörter wie »Pathologie« (патология)und »Rentgen« (Рентген) raus. In aller Schnelle hatte ich mir zumindest das kyrillische Alphabet angelernt, das kam mir wiederholt zugute. Ein »Ö« kommt darin nicht vor.

Wir besichtigen auch die physikalische Abteilung der Uni. Es gibt russische Computer und solche von IBM. Die waren natürlich die besseren. Spielen konnten die Physiker auch damit. Man konnte in ein Programm sein Geburtsdatum eingeben. Dann erschien ein Männeke wie ein Zauberer. Das saß auf dem oberen Bildrand und wippte mit den Beinen. Wenn es fertig gewippt hatte, las man sein Horoskop – sofern man kyrillisch lesen und russisch oder ukrainisch verstehen konnte. Abends ging es mit den Tscherleniak und seinen Kollegen in eine unieigene Sauna. Die Unterhaltung erfolgte in astreinem Englisch. Es waren nette Menschen, auch teilweise etwas schrullige Typen.

Die Tscherleniaks bauten gerade ihr eigenes Haus, etwas außerhalb an einem Berghang. Wir besichtigten die Baustelle, das Fundament war fertig und gewaltig für ein Einfamilienhaus. Es sah mehr nach einem Bunker aus. Ich wurde aufgeklärt: Das war ein Fundamente für ein Hochhaus. Es wurde vorgefertigt in die Baugrube eingebracht. Man zahlte schwarz, und zwar mit Video-Rekordern. Dieses gesamte Fundament kostete zwei Rekorder! Der Lieferant hatte zu diesem Zeitpunkt nur die Hochhaus-Bauteile. Also wurden kurzerhand diese genommen. Kann ja nicht schaden, aber wehe wenn man da mal ein Loch durchbohren muss, beispielsweise für eine Wasserleitung. 50 cm Stahl-Beton!

Sehr stolz waren die Ukrainer auf ihre Unabhängigkeit. Aber sie hatten es schwer. Sind waren eines der reichsten Länder der GU-Staaten. Aber Russland hatte seine untergeordneten Länder bewusst abhängig gemacht. Z.B. produzierte die Ukraine Zement. Die Weiterverarbeitung fand aber in einem anderen Land statt. So hatten es beide Länder schwer, eigenständig Beton-Produkte herzustellen. Dieser Beispiele gab es viele.

Wir besichtigten eine Kirche, eine sehr schöne Holzkirche, mit Schindeln bedeckt. Daran waren zweisprachig Infoschilder angebracht, auf Ukrainisch und auf Russisch. Ich verglich die beiden Texte und konnte oft nur allergeringste Unterschiede feststellen. Und trotzdem war diese Zweisprachigkeit wichtig!

Einen Ausflug machten wir in die Karpaten. Es ging einen Talhang hoch, eine abenteuerliche Fluss-Überquerung eingeschlossen. Wir kamen in höhere Lagen mit Schnee. Die Tscherleniaks wollten nicht mehr weiter. Ich aber sah einen nahen Gipfel. Den wollte ich unbedingt erreichen, und so machte ich mich in gegenseitigem Einverständnis alleine auf. Der Schnee wurde tiefer, Kieferngestrüpp immer enger, musste mich durchquetschen und versank teilweise hüfttief im Schnee. Also brach ich meine Tour ab. Bei den Tscherleniaks stellte ich fest, dass ich meine Uhr abgestreift hatte, sie war fast noch neu. Also folgte ich meinen eigenen Fußstapfen und machte die ganze Runde noch einmal, erfolglos. Gut, damit musste ich leben. Die Uhr wird noch ein paar Jahre auf einem Karpatenberg getickt haben. Vielleicht hat sie jemand gefunden – ich würde sie demjenigen gönnen.

Inzwischen wurde es dunkel, eine pechschwarze Nacht brach an. Man konnte seine Hand nicht vor den Augen sehen. Vater Tscherleniak hatte eine winzige Funzel dabei und schien sich nicht richtig auszukennen. Einen Weg gab es hier nicht, wir stolperten über Stock und Stein, irgendwie immer weiter nach unten. Ich war mir sicher, dass wir nie und nimmer bei seinem Auto herauskommen würden.
Dann betraten wir eine kleine Lichtung, endlich ebenerdig – und standen exakt vor dem Fahrzeug!

Die Uni hatte nicht nur ihre eigene Sauna, sondern auch ein Ferienhaus in den Karpaten. Dort verbrachten wir das Wochenende. An einem Abend saß man nach dem Essen zusammen und trank. Es wurde Wodka gekippt bis zur Ohnmacht, ich hatte rasant einen sitzen. Es war ein »Fremder« da, der unablässig zum Weitertrinken animierte. So viel wurde zuvor bei den Tscherleniaks nicht getrunken, und so sympathisch ist mir das auch nicht.

Was mir von diesem Abend hängen geblieben ist, war eines dieser Videogeräte, das die ganze Zeit lief. Ein halbes Fundament! Es zeigte saublöde Bud Spencer- Filme in äußerst miserable Qualität, in schwarz-weiß, streifig und auf Deutsch! Eine ukrainische Männerstimme übersetzte alles synchron, alle Parts, ganz emotionslos. Statt Untertitel quasi Untersprache, auch bei den Frauenrollen. Aber es kam an, vor allem der Sohnemann war fasziniert davon.

Und hier hatten wir den zweiten Saunaabend. In einer Hütte, etwas draußen gelegen, kochte in einem selbst zusammengeschweißten Ofen Wasser und dampfte in den Nebenraum. Dort legte man sich auf Bänke und fing an zu schwitzen. Nach einer Weile ging man hinaus in den Schnee. Das machte einem nichts aus, überhitzt wie man war. Nur an einem Bachlauf musste man aufpassen, nicht barfuß auf dem Eis auszurutschen. Man brach von bestimmten Nadelbäumen ein paar Äste ab. Dann ging es wieder zurück in den Schwitzraum, und dort peitschte man sich leicht mit diesen Zweigen aus. Es prickelte auf der Haut – und tat gut.

Auf der Rückfahrt hielten wir an einem Baumarkt. Es gab viele leere Regale. Das, was vorhanden war, begutachtete Herr Tscherleniak und kaufte dies und das, egal ob er es gebrauchen konnte oder nicht. Es war immer gut etwas zum Tauschen zu haben.

So weit reichen meine Erinnerungen. Leider riss der Kontakt zu den Tscherleniaks fast genau so schnell ab wie er entstanden war. Ich hatte mir Souvenirs mitgebracht, zwei Bilder eines expressionistischen Künstlers, dessen Atelier wir besucht hatten. Es lief ganz offiziell: Die Tscherlieniaks mussten ein Amt aufsuchen, ich bekam Papiere zu den Bildern und eine Ausfuhrgenehmigung. Es waren zwei Landschaftsbilder, eines davon mit heulenden Wölfen. Beide hingen über viele Jahre in meinem Sprechzimmer und gingen nach dem Praxisverkauf an meine Nachfolger über.


Es gab einmal noch ein Telefonat. Ich erfuhr, dass die Tscherleniaks Besuch von einem Amerikaner hatten. Wahrscheinlich konnte die Lehrerin endlich einmal Englisch mit einem Muttersprachler sprechen. Der kam aber dort nicht so gut an wie ich, besonders in den Karpaten hatte er sich nicht gut bewährt!

Vor zwei Jahren habe ich dieses Essay bei den Kurzgeschichten eingestellt. Damals brannten Wälder bei Tschernoby. Inzwischen haben wir Krieg in der Ukraine, seit mittlerweile über drei Monaten. Etwas umständlich habe ich Herrn Wassilij Tscherleniak wieder aufgefunden. Er führt in Siegen eine große hausärztliche interinstische Praxis. Er hat sofort eine Hilfsgruppe organisiert. Sein Bruder, der Physiker, beherbergt in seinem Haus drei Binnenflüchtlings-Familien.

Weitere Informationen:
Die Friedensgruppe Siegen, https://friedensbund.org/page1.html
https://www.facebook.com/groups/479669595546978
Wer für diese Gruppe spendet, kann sich sicher sein, dass sein Geld dort ankommt, wo es gebraucht wird.
Konto: DE59 4605 0001 0001 2918 55
BIC WELADED1SIE

Praxis Dr. Tscherliak
https:// www. siegen-hausarzt.de/home.html (bei Interesse in dem Link die Leerzeichen löschen).

Viele Grüße aus Berlin
Gnosjooe