Blick zurück

Blick zurück

08.06.2019 22:50

Szenen I - IV - Als Kind in Lettland


Szene I
Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich eine weite bunte Blumenwiese vor mir. Sie ist bedeckt von fröhlich weiß-gelben Margeriten, pinkfarbenen Kuckucksblumen und den violett-blauen Glockenblumen. Ich spüre einen heißen Sommer, sehe hohes Gras sich im sanften Wind wiegen. Ich sehe mich durch diese Wiesen mit hohem Gras laufen und Blumen pflücken. Auf der hellen Lichtung vor unserem kleinen Häuschen finde ich Erdbeeren, Himbeeren, Heidelbeeren. Und Moosbeeren, diese haben eine Ähnlichkeit mit Preiselbeeren, enthalten viel Vitamin C und schmecken leicht bitter.
Grazile, stolze Birken stehen an den Wegesrändern und an den Flussufern.
Ich sehe mich durch einen lichtdurchfluteten, freundlich scheinenden Wald laufen, mit Kiefern, Fichten und vielen Laubbäume. Die hohen Baumwipfel rauschen und erzählen eine Geschichte. Ich gehe an der Hand meines Vaters, während er mir die verschiedene Pflanzen im Wald erklärt. Den hellgrün leuchtenden Farn, den sattgrünen Wald-Klee mit seinen zartweißen Blüten. Die weichen Blätter kann man essen, sie schmecken etwas säuerlich, aber sehr fein. Wir suchen zusammen Pilze, er zeigt mir die essbaren, wie Pfifferlinge und Steinpilze und lehrt mich zu unterscheiden, welche Pilze giftig sind.
Diese Tage im heißen Sommer scheinen unendlich zu sein.

Szene II
Ich stehe mit meinem Vater im Garten und schaue zu, wie er aus unseren Birken Saft gewinnt. Birkensaft – „Bersu sulas“, das traditionelle Getränk in Lettland. Es ist Frühling, die kalten Monate mit Frost und Minusgraden sind vorbei. Also ist es Zeit, den Saft der Birken abzuzapfen. Dafür bohrt mein Vater mit einem Handbohrer Löcher in die Birkenstämme. Dann steckt er in jeden Stamm einen kleinen Stab hinein und stellt einen Eimer darunter. Es dauert etwas, aber dann kommt er, der wertvolle Saft. Tropfen für Tropfen. Meistens braucht es mehrere Tage und Nächte, bis die Eimer voll sind, aber es lohnt sich. Jeden Morgen schaut mein Vater nach, wieviel Saft herausgekommen ist und ich bekomme dann das erste Glas zu trinken. Es schmeckt wunderbar leicht und süßlich. In den nächsten Monaten werden wir ihn täglich trinken, solange bis die Birken all ihre feinen lindgrünen Blätter voll entfaltet haben. Denn dann ist Sommer und die Birken haben Schonzeit.

Szene III
Ich bin ungefähr 8 Jahre alt und mit meiner Schultasche unterwegs. Ich bin dick eingepackt. Mein Mantel ist lang und warm, auf dem Kopf habe ich ein großes, wollenes Kopftuch, meine Hände sind in warme Wollhandschuhe gesteckt, die Füße in hohe, gefütterte Stiefel. Es ist Winter…
Der Weg zur Schule ist mühsam, ich sinke immer wieder bis zu den Knien in den weichen Schnee. Der Weg führt leicht bergauf, es ist noch keine Spur gelegt. Erst an der nächsten Wegbiegung komme ich auf einen breiteren Weg, hier sind schon mehrere Stiefelspuren zu sehen. Ich versuche meine kleinen Schritte den Spuren anzupassen, was nicht so einfach ist, weil sie weiter auseinander liegen, als meine. Auf meinem Weg sehe ich vereinzelt einsame Häuschen, bzw. Höfe, aus denen der Kamin raucht. Rundherum glitzert der blendend weiße Schnee. Einzelne Spuren von Füchsen oder Hasen kann ich erkennen, auch die Abdrücke von Vogelfüßchen kann ich verfolgen. Friedliche Ruhe umgibt mich, ich begegne keinem Menschen, bis ich in den Hof der Schule eintreffe.
Hier allerdings herrscht lautes Treiben, die Kinder schreien durcheinander. Ich bin angekommen und renne mit den anderen Schülern in mein Klassenzimmer. In einer Klasse sind mehrere Jahrgangsstufen. Der Unterricht dauert bis zum Nachmittag, danach folgt mein Heimweg – aber zurück geht es zum Glück bergab.

Szene IV
Es ist Morgen, die Sonne scheint und ich laufe heute den Weg zur Schule mit leichten, fröhlich hüpfenden Schritten. Denn heute bekomme ich eine Auszeichnung. Unser Lehrer sagte uns schon vor einigen Tagen, dass die jeweiligen Klassenbesten eine Urkunde und ein Geschenk bekommen werden und ich bin in meiner Klasse das Mädchen mit den besten Noten. Beste Noten in allen Fächern! Ich bin etwas aufgeregt und frage mich, wann wir wohl die Auszeichnung bekommen werden, gleich in der ersten Stunde oder vielleicht nach der Pause? Dann ist es endlich soweit! Schüler, Lehrer und der Schuldirektor strömen in die Aula. Dort sind schon die Stühle aufgestellt und auf der Bühne steht ein Rednerpult. Zur Einstimmung der kleinen Feier singt der Schulchor auf der Bühne erst noch einige Lieder. Dann geht der Direktor an den Rednerpult und ruft einen Namen nach dem anderen auf, die zu ihm nach vorne kommen sollen. Er schüttelt jedem einzelnen die Hand und lobt die Besten für die ausgezeichneten Leistungen. Ich bekomme eine schöne Urkunde und ein kleines Fotoalbum. Auf der ersten Seite ist ein Foto mit allen Schülern aus unserer Schule darauf. Darunter steht eine Widmung mit dem Text:
„Karinai Grundmane par teicaman sekmen, 25. 5.1956“
Für Karina Grundmann für meisterhafte Leistung!
Meine Freude ist groß und ich kann es gar nicht abwarten, es daheim meinen Eltern zu zeigen. Also springe ich auch auf dem Heimweg leichtfüßig und voller Freude den Weg hinab zu unserem Häuschen, ich bin schneller zu Hause als an anderen Tagen.
Dieses kleine Fotoalbum habe ich heute noch.

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