Der Krummbaum

Der Krummbaum

24.12.2015 22:01

Der Krummbaum



© Jo Rizei

In einem nicht all zu weit entfernten Land, in der Nähe eines einsamen Dorfes, standen, abseits der Straße und dem Lärm des Alltags, einige Dutzend Blautannen. Vor Jahren hatte sie dort ein alter Mann als kleine Pflänzlein gesetzt in der Absicht, sie später einmal, wenn sie die entsprechende Größe erreicht hätten, kurz vor Weihnachten zu verkaufen, damit sich die Leute ihre Wohnung an den Feiertagen mit herrlichen Tannenbäumen schmücken könnten. Jedes Jahr kehrte der alte Mann im Frühjahr und im Herbst zu der Tannenbaumschonung zurück. Dann hegte und pflegte er die Tannenkinder, auch wenn sie hier und da schon durch den Verbiss wilder Tiere Schaden erlitten hatten. Doch im siebten Jahr, nachdem der Mann sie gesetzt hatte, kam er im Frühjahr nicht mehr zu ihnen. Darüber herrschte in der Tannenschonung einige Unruhe und die Tannen tuschelten vom Wind getragene Worte als er auch im Herbst nicht erschien.

Man muss wissen, dass die Tannen sehr stolz darauf waren, einst Weihnachtsbäume zu werden. Jede sehnte sich nach dem Moment, an dem sie von ihrer verwurzelten Stelle wegkam, um stattlich geschmückt in einem warmen Raum stehend in glückliche Kinderaugen zu blicken. So mussten sie nicht das Schicksal ihrer großen Artgenossen teilen, die jahrzehntelang in die Höhe wuchsen um nach dem Fällen in Stücke zerschnitten zu werden. Nein, dies war ein edleres Ziel, dessen waren sie sich sicher. „Wo bleibt der alte Mann?“ wisperte die große Blautanne am Anfang der Schonung, als das hochwachsende Gras sie an ihren untersten Ästen kitzelte. Die große Tanne wurde von allen nur Grota genannt, so hatten sie sich Namen gegeben. Tannen, welche sich für besonders schön hielten, wählten Endungen mit –ta für Tanne. Kleita, die kleine Tanne, hauchte: „Ja, letztes Jahr hat er mir das Gestrüpp weggeschnitten, so dass ich mehr Sonne abbekommen habe und gut gewachsen bin“. „Und mich hat er zurechtgeschnitten, nun stehen meine Äste noch gleichmäßiger ab,“ ergänzt die ebenmäßige Ebenta. Und jenen, die man nicht für schön hielt, gab man die Endung –ba für Baum oder noch abfälliger –ho für Holz. War es doch das Schicksal eines Baumes, zu Brettern verarbeitet zu werden, als Industrieholz oder Brennholz zu enden.

In der Mitte der Schonung stand eine Tanne, die vom alten Mann immer wieder aufgepäppelt wurde. „Ich glaube an dich!“ hatte er ihr stets leise zu verstehen gegeben, während einige Nachbartannen nur kicherten, war sie doch schon des Öfteren angeknabbert worden und Mäuse hatten ihr Wurzelwerk beschädigt. Schlingpflanzen umringten sie immer wieder und so kam es, dass sie nicht gerade wuchs sondern mehrfach gekrümmt war. Sie sah fast aus wie ein zu groß geratener Bonsai-Baum. Obwohl die Vögel sie als Lieblingsplatz erwählt hatten, wurde sie von ihren Nachbarbäumen nur verächtlich Kruba für Krummbaum genannt. Direkt daneben war Altholz, kurz Altho, eine Tanne der schon die Nadeln ausfielen und welche dahinsiechte, wohl wissend, dass sie nur noch als Dünger für die anderen Pflanzen und als Futter für Insekten diente. Altho war mit ihrem Dasein dennoch zufrieden und beklagte sich nie. Sie sah in jeder Lage das Gute, weshalb sie auch die Achtung aller anderen Tannen erhielt, obwohl man unter vorgehaltener Hand bzw. vorgehaltenem Ast über sie tuschelte.

Wirklich gut leiden mochten sich nur Kruba und Altho. „Ich glaube, dass der alte Mann vom Schicksal gefällt wurde“ meinte Altho zu Kruba. „Ja, kann sein, doch wie soll es mit uns weiter gehen?“, fragte Kruba. „Wahrscheinlich wird ein anderer nach uns schauen kommen,“ vermutetet Altho. „In diesen oder nächsten Jahr sollte das geschehen, sonst werden wir zu groß“ meinte Grota. In diesem Jahr kam allerdings keiner. Der alte Mann war tatsächlich verstorben, wie Altholz schon vermutet hatte und seine Erben erfuhren erst später von der abgelegenen Weihnachtsbaumkultur. Und auch im kommenden Frühjahr kam niemand. Altho war im Winter zuvor von einem Rothirsch niedergetrampelt worden. Die anderen Tannen hatten sein Schicksal bedauert und vergaßen dann, dass es sie je gegeben hatte. Nur Kruba trauerte wirklich, hatte er doch den einzigen Freund verloren. Und als es Winter wurde und immer weniger Vögel ihm Gesellschaft leisteten, war er sehr einsam. Seine stolzen Nachbartannen hatten sich in diesem Jahr besonders gerade in die Höhe gestreckt und sie blickten auf seinen buckeligen Hauptstamm in der Mitte herab. „Du wirst wohl als Industrieholz enden“ rief Freschta, die eine Baumreihe weiter stand, ihm zu. „Ja, als Holzfaserplatte“ ergänzte fies Fiesta. Kruba ließ traurig die Äste hängen. Was er auch sagte, man antwortete ihm mit Häme und Spott und selbst wenn er nichts sagte, machte man sich über sie lustig.

Anfang Dezember kam dann Otto mit seinem zehnjährigen Sohn Heinrich und der achtjährigen Tochter Kornelia. Otto war ein Nachkomme und Erbe des alten Mannes. „Seht ihr Kinder, diese Tannen hat euer Opa Johann vor acht oder neun Jahren gepflanzt. Er hat bestimmt öfters nach ihnen geschaut, schaut mal wie schön eben und gleichmäßig sie sind. Das werden prächtige Weihnachtsbäume werden. Leider sind es nicht all zu viele, doch wenn wir diese alle verkaufen, so können wir gemeinsam von dem Geld ein paar Tage Urlaub machen.“

So lief er mit der Axt in der Hand durch die Tannenbaumkultur. „Aber fürs erste suchen wir uns selbst einen schönen Baum aus. Und hier, ein ganz krummer Baum, ich glaube, den haue ich um, damit er den anderen kein Licht wegnimmt, der ist doch sonst nicht zu gebrauchen“, meinte Otto und holte mit der Axt aus, als er bei Kruba ankam. Doch ein umher wirbelnder Buchfink hielt ihn zuerst ab, unüberlegt zuzuschlagen. Otto wusste nicht, dass sein Vater Johann sich gerade mit Kruba besonders viel Mühe gegeben hatte.

„Oh nein, Papa, nicht einfach umhauen und wegwerfen!“, rief da Kornelia, „der Baum ist wunderschön!“. Zuerst schaute Heinrich seine Schwester ganz skeptisch an. Dann schaute er auf den Baum, um den immer noch der Vogel wild gestikulierend zwitscherte. „Ja Papa, das ist doch ein ganz besonderer Baum. Sieh nur, der Vogel mag ihn auch!“. „Der kann sich andere Bäume suchen!“ raunte Otto mürrisch, hatte er doch nicht mit dem Widerstand seiner Kinder gerechnet. Und dann schaute er sich den Baum nochmals an: Wie eine Spirale war der Mittelstamm des Baumes nach oben gewandelt. An jeder Seite hingen dicke und gesunde Äste mit starken leicht stacheligen Nadeln. „Dem Baum fehlt ja jede Symmetrie“, entfuhr es dann Otto, weniger verächtlich als eher mit aufsteigender Bewunderung für das gelungene Kunstwerk der Natur. „Was ist Simmerie?“ fragte Korneilia Heinrich, doch der überhörte die Frage und ergänzte trocken, „Ich finde, er ist hübsch ungleichmäßig“.

Alle drei standen nun um Kruba und überlegten. „Papa, ich will deeeeeen als Weihnachtsbaum!“, rief Kornelia dann laut und stampfte mit einem Fuß fest auf den Boden. „Aber Mama wird sagen, dass wir mit diesem Baum nichts anfangen können. Wenn er im Ständer ist, kippt er immer um, weil er ja ganz schräg ist“, gab Papa zu bedenken. „Dann binden wir ihn eben mit Seilen“ beratschlagte Heinrich seinen Vater. „Ja und kleben ihn mit Tapetenkleister am Boden fest“ gab Kornelia auch ihrem Wunsch Ausdruck, dass nur dieser eine Baum unmissverständlich der Auserwählte sei. Otto versuchte noch eine List um Zeit zu gewinnen, so dass man es sich nochmals alles hätte überdenken können: „Gut, wir hängen ein Tuch dran und nächste Woche hole ich ihn!“. „Nein, du hast versprochen, dass wir heute den Baum bekommen und Mama wartete darauf. Außerdem, wer weiß, ob das Tuch nächste Woche noch da ist“ widersprach Heinrich, von der heftig nickenden Kornelia unterstützt. Diese nutzte die Gunst der Stunde: „Wir stimmen ab, wer ist für den Baum?“ Heinrich und Kornelias Finger fuhren ruckartig nach oben. Otto, der die Gefahr der drohenden Abstimmungsniederlage aus unendlich vielen politischen Sendungen kannte, zeigte dann ebenfalls auf und somit war man sich einig: Dieser Baum, der ist es. „Wenn Altholz das noch erlebt hätte“ raunte Kruba, als Heinrich und Otto ihn gemeinsam durch den Tannenwald trugen, während Kornelia die schwere Axt hielt, im ganzen Gesicht strahlend wie eine Königin.
Nur die anderen Tannen blickten nicht mehr verächtlich, eher ungläubig. „Pfeff… Unverschämtheit“ war das Letzte, was Kruba noch von ihren neidischen Kollegen hörte. Und das erste Mal seit langem überkam Kruba eine große Freude.

Mama war tatsächlich zuerst ungläubig, doch nachdem Otto den Baum hingestellt hatte und ein Seil diesen gegen Umkippen sicherte, da meinte sie. „Ja, das ist ein besonders schöner Baum. Seine Schönheit liegt genau darin, dass er nicht gerade ist und sein Stamm weich geformte Kurven bildet. Der schönste Baum, den wir je hatten.“ Gemeinsam schmückten sie die Tanne und bald konnte Kruba in die glücklichsten Augen von Kindern sehen und, was ihm keiner gesagt hatte, auch in die von Eltern.

Nach Silvester stellte Otto die Tanne hinter das Haus, wo man sie noch lange schneebedeckt sehen konnte. Ein oder zweimal am Tag erhielt sie dort Besuch von einem Buchfink.

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  • Erstellt von rizei In der Kategorie Allgemein am 24.12.2015 22:01:00 Uhr

    zuletzt bearbeitet: 10.01.2016 12:48
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