Die meisten Treppen führen von einem Stockwerk ins andere. Manche führen in den Keller oder einen Turm hinauf. Eine Treppe in den Himmel habe ich noch nicht gesehen, und eine Treppe in die Hölle gibt es nicht (obwohl manche das behaupten!). Aber eine Treppe des Todes? Ja, die gibt es, und zwar bei Opi zuhause.
Diese Treppe führt hoch in den Garten. Sie ist nur kurz, von Blumen eingerahmt und teilweise von Mos bedeckt. Für Opi ist sie manchmal ein Hindernis, wenn er Säcke voller Blumenerde für Omi nach oben tragen muß.
Auf der ganzen Treppe liegen Körner und Reste von Körnern herum, denn oberhalb der Treppe befinden sich Behälter mit Körnern und toten Maden für die Vögel, und was den Vögeln beim Fressen herunterfällt, ist ein Festessen für andere Vögel und für die Mäuse. Denn unter der Treppe lebt eine Mäusefamilie, oder zwei? Sie haben zwei Wohnungen, die sie ständig wechseln. Warum, weiß Opi nicht. - Mäuse! Vielleicht ist eine davon eine Ferienwohnung?
Eines Tages huschte eine Maus auf der Treppe herum. Es war Zeit zum Mittagessen. Sie stopfte sich ein paar Körner in die Backen und fing an zu kauen, was lustig aussah, weil dabei ihre Schnurbarthaare auf und ab wippten. Doch es sollte ihre letzte Mahlzeit sein, denn schon kam der Tod auf leisen Pfoten!
Mit erschütternder Geduld hatte Charly, unser Kater, auf diese Gelegenheit gewartet. Er saß wie eine Steinfigur regungslos oben auf der Treppe, nur sein Schwanz zuckte. Charly wußte nicht, dass das Wuselnde da unten auf der Treppe eine Maus war. Für ihn war es ein Fell, das sich bewegte, und alles, was sich bewegt, denkt Charly und nicht zu groß ist und gut riecht, kann man essen.
Opi schaute gebannt zu, wie die kleine Maus hin und her lief, um bloß kein Körnchen zu verpassen. Dann hatte sie genug und wollte in ihre Wohnung zurück, – zu spät! Opi sah nur einen Schatten, hörte ein leises Quieken und schon zappelte die Maus zwischen den Zähnen von Charly. Er biß sofort zu, die Knochen knackten und dann schluckte er die Maus kauend herunter, denn seit er älter geworden ist, ißt er die Mäuse meistens sofort, ohne mit ihnen vorher zu spielen. (Er hat sich inzwischen bei den Bremer Stattmusikanten beworben!). Nichts blieb von der Maus übrig, als hätte es sie nie gegeben.
Das Morden ging weiter. Am nächsten Tag starb eine Blaumeise, die der Kater im Sprung erwischte. Ein Grünfink wurde am Boden getötet, nur eine kleine Wolke von Federn blieb zurück und sank langsam zu Boden.
Das Schlimmste war aber der Tod des Rotkehlchens, der Liebling von Omi. Das Rotkehlchen war eine Augenweide, ihr rotes Brustkleid leuchtete in der Sonne, wenn sie federnd auf einem Zweig saß. Aber Charly kannte kein Erbarmen, für ihn saß da kein wunderbarer Vogel, sondern etwas, was er essen konnte. So kam der Tod schnell. Nie mehr sollte die rote Farbe des Rotkehlchens in der Sonne leuchten!
Wenn Omi oder Opi morgens durch das Fenster in den Garten schauen, können sie oft Herrn und Frau Dompfaff begrüßen. Sie sagen dann: „Guten Morgen, Herr und Frau Dompfaff.“ Und das Vogelehepaar grüßt mit einem Nicken zurück. Der Dompfaff wird auch Gimpel genannt. Der Mann hat eine rote Brust wie ein Bischoffskleid und sieht mit seiner Kopfplatte aus wie ein Pater im Kloster. Sie hat ein schlichtes brau-graues Federkleid. Bei den Vögeln sind die Männer oft besser gekleidet als die Frauen. Sie geben damit gerne an.
Eines Tages hüpften Herr und Frau Dompfaff zur Treppe. Omi schaute nach Charly, der jedoch lag ausgestreckt auf dem Garagendach und döste in der Sonne. "Gott-sei-Dank!" Herr und Frau Dompfaff schienen nicht in Gefahr.
Doch kaum hatte sich Omi umgedreht, hatte Charly Herrn und Frau Dompfaff erspäht und schlich sich leise ran. „Nein, bitte nicht,“ riefen Omi und Opi gleichzeitig voller Entsetzen. Bitte laß sie am Leben! Omi reagierte als erste: Im Nu war sie draußen. Sie rannte hinter Charly her und schrie:“ Charly, hau ab!“ Ungläubig schaute Charly Omi an, als wolle er das nicht glauben. Aber dann schlich er sich, scheinbar gelangweilt, wie das nur Katzen können, davon, denn Omi kann sehr laut werden und ein grimmiges Gesicht machen.
Seitdem passen wir auf, aber sicher sind die Vögel nie. Neulich sah ich sogar einen Waschbären auf der Todestreppe, der auch nach Resten des Vogelfutters suchte. Aber das ist eine andere Geschichte!